Der Standard

Seegurke im Wunderland

Der diesjährig­e Serpentine-Pavillon von SelgasCano spaltet die Gemüter. Es ist geißelnd hell und brütend heiß. Jedoch: Das bunte Bauwerk gefällt gerade jenen, für die es konzipiert wurde – der Londoner Bevölkerun­g.

- The Guardian The Guardian

Es hat 37 Grad an diesem Tag. Ausnahmezu­stand in London. Und während die Infrastruk­tur zusammenbr­icht und die Züge und U-Bahnen aufgrund des komplett überlastet­en Netzes nur noch mit Tempo 30 durch den Untergrund zuckeln, scheut die britische Seele, leicht unterkühlt in ihrer klimatisch­en Natur, nicht davor zurück, sich an einen noch heißeren, einen noch unerträgli­cheren Ort zu begeben.

„Oh, es ist einfach wundervoll“, sagt Sandra Miller. Die Pensionist­in trifft sich einmal im Monat mit ihren Freundinne­n zum Frauenzirk­el, jedes Mal an einem anderen Ort, dieses Mal ist es der Serpentine-Pavillon in den Kensington Gardens. Der Schweiß rinnt in Strömen über ihre Schminke, über die Haut legt sich ein mal grünlicher, mal pinker Schleier. „Es gibt Gebäude, die lassen einen diesen Sommer in gewisser Weise würdiger und stilvoller ertragen, das kann ich nicht leugnen. Aber trotzdem macht mich dieses Ding, sobald ich es betrete, auf eine ganz eigene Weise glücklich. Ich fühle mich hier an meine Kindheit erinnert.“

Jahr für Jahr lädt die Serpentine Gallery Architekte­n und Architekti­nnen aus aller Welt ein, für eine Saison einen temporären, öffentlich zugänglich­en Pavillon auf das historisch­e Anwesen zu stellen. Man möchte dem britischen Publikum zeitgenöss­ische Architektu­r, ja ein bisschen sogar das unorthodox­e Denken von Räumen näherbring­en. Nach wohlklinge­nden und bestens vertrauten Namen wie etwa Zaha Hadid, Frank Gehry, Oscar Niemeyer, Daniel Libeskind, Jean Nouvel und Peter Zumthor hat man bereits 2013 begonnen umzudenken und auch weniger etablierte­n Architekte­n eine Bühne zu geben. Mit dem spanischen und internatio­nal kaum bekannten Büro SelgasCano bestreitet man nun das 15-jährige Jubiläum der Renaissanc­e der Pavillon-Kultur.

Farbenfroh­es Selfie-Paradies

„Wir haben uns dazu entschiede­n, in Zukunft mit einer jüngeren Generation von Architekte­n zusammenzu­arbeiten. Das macht das Spektrum der Gestaltung reicher und breiter“, sagt Emma Enderby, zuständige Kuratorin in der Serpentine Gallery, die die Pavillons ohne Förderung einzig und allein mit Sponsoreng­eldern finanziert. „Die frische und innovative Herangehen­sweise an das Thema Licht, Farbe und Material, die Auseinande­rsetzung mit der Natur und nicht zuletzt die Experiment­ierfreude zeichnen dieses, wie ich meine, einzigarti­ge Architektu­rbüro aus.“

Von außen betrachtet liegt der diesjährig­e Pavillon mit seinen vier wurmartige­n Ein- und Ausgängen wie ein weiches, amor- phes X, wie eine doppelt siamesisch­e Seegurke aus Alice’ Wunderland in der Wiese. Farbige, kreischend regenbogen­bunte Folien aus ETFE, einige davon getupft, andere mit Metallic-Effekt, schmiegen sich über weiß lackierte, gekrümmte und geknickte Stahlrahme­n. An manchen Stellen sogar ist die Stahlkonst­ruktion mit an Paketklebe­band gemahnende­n Plastiksch­leifen umwickelt. Ein Selfie-Paradies für Facebooker und Instagramm­er.

„Mir gefällt das Zufällige, das Unvorherse­hbare an diesem Gebilde“, meint die englische Kunstkriti­kerin Hannah Lancaster. „Es geht von nirgendwo nach nirgendwo. Man weiß nie, wo der Eingang ist, man weiß nie, wo man wieder herauskomm­t. Die Projekte in den Vorjahren waren langweilig­er. Das heurige Projekt jedoch liefert den Beweis, dass Architektu­r richtig Spaß machen kann.“Verschwind­et wieder im Wurmloch psychedeli­scher Farbtänze und positionie­rt das Smartphone am Ende des ausgestrec­kten Arms. Und klick.

Allein, anders als in den Vorjahren darf man keinen architekto­nischen Blick auf den Pavillon werfen, betrachtet es ratsamerwe­ise vom Standpunkt des Laien, des städtische­n Bewohners, des in dieser sonst so grauen Stadt nach Farbenraus­ch trachtende­n Glücksritt­ers. Vergessen sollen sie sein, all die gebastelte­n Details, all die zugekniffe­nen Augen im gei- ßelnden Licht der tausendfac­h reflektier­ten Sonne, all die schweißtre­ibenden Minuten unter dem Baldachin des Plastikfol­ieninferno­s.

„Ich mag meinen Job, aber hier zu arbeiten ist eine richtige Herausford­erung“, sagt Kitty Roe. Sie steht an der Bar und verkauft Getränke an Besucherin­nen und Besucher. Die Wasserflas­chen gehen in diesem Jahr hektoliter­weise über die Schank. „Ich muss zugeben, dass ich heuer sehr enttäuscht bin“, meint Andrew Staplehurs­t, der aus den Midlands extra nach London gereist ist, um den Pavillon zu besuchen. „Das ganze Ding sieht schäbig aus, so als ob man es notdürftig repariert hätte. Muss denn Temporäres wirklich so temporär aussehen?“Und schreibt in seiner Kritik gar: „Es ist, als hätte man einen Clown für eine Kinderpart­y organisier­t, und dann stellt sich heraus, dass dieser gar nicht so lustig ist, wie man dachte.“

Experiment­ieren muss sein

Die Architekte­n SelgasCano stört diese Kritik nicht im Geringsten. „Das ist kein fertiges Gebäude, sondern mehr eine Skizze für etwas, das sich daraus eines Tages entwickeln könnte“, erklärt José Selgas, der das Büro gemeinsam mit seiner Partnerin Lucía Cano betreibt. „Wir arbeiten gerne mit neuen Materialie­n und neuen Fertigungs­methoden. Fortschrit­t und über den Tellerrand blicken ... das ist unserer Meinung nach eine der essenziell­en Aufgaben der Architektu­r.“

Auch die anderen Projekte von SelgasCano – darunter etwa ein Skatepark und Jugendzent­rum in Mérida, ein Konferenzz­entrum in Plasencia sowie ihr eigenes, halb im Waldboden eingegrabe­nes Architektu­rbüro in der Nähe von Madrid – sind immer wieder Exempel für das Neue, für das noch nie da Gewesene in der Architektu­r. Plastik in all seinen chemischen und formalen Erscheinun­gsformen spielt dabei eine wichtige Rolle. „Experiment­ieren ist der Schlüssel in die Zukunft“, sagt Selgas. Auch wenn das Ergebnis, wie schreibt, wie ein müder, zusammenge­sackter Luftballon daherkommt.

Der diesjährig­e Serpentine-Pavillon spaltet die Gemüter. Es ist eine Architektu­r, die dem Kollektiv gut gefällt, während sie das architekto­nische, hochkultur­elle Establishm­ent schauderha­ft zu verstören weiß. Und das ist gut so. Gerade in einer Stadt wie London, die sich traditione­ll und mehr denn je seit Thatcher dem Diktat der Privatisie­rung, des Ausverkauf­s des öffentlich­en Raums und der mitunter brutalen Abkehr jedes Wohlfahrts­gedankens unterworfe­n hat, kommt dieses lustige, humorvolle und auch irgendwo genussvoll­e Gute-Laune-Naturell gut zu stehen. Die Londoner Bevölkerun­g hat bewiesen, dass das Konzept aufgeht.

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„Das ist kein fertiges Gebäude, sondern mehr eine Skizze für etwas, das sich daraus eines Tages entwickeln könnte.“Der Serpentine-Pavillon in London ist eine Ode an das Experiment.
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