„... mich der Melankolie zu entziehen“
Sohn des Schmerzes, Kind der Freude: Ben- Oni – Geschichte einer Verteidigung (I). Von ruf & ehn
„In trüben Stunden“, schreibt Aaron Reinganum in den Vorbemerkungen zu seinem Buch Ben-Oni oder die Vertheidigungen gegen die Gambitzüge im Schache „bei welchen ich in mir das Bedürfniß fühlte, mich der Melankolie zu entziehen, pflegte ich mich an das Schachbret zu setzen und da ein Stündchen, nach einem mir vorgesetzten Plane zu arbeiten. Da ich nun der trüben Stunden in meinem Leben so viele hatte, so entstand auf eine solche Weise durch mehrere Jahre, nach und nach das gegenwärtige Werk, das ich nun vollendet, mit dem Wunsche einer beifälligen Aufnahme und daß es jedem Andern weit angenehmere Stunden der Erholung gewähren möge, der Presse übergebe.“
Nur wenig wissen wir über den Autor, der hier so offenherzig über seine trüben Stimmungen spricht. Aaron Reinganum (1753– 1841) stammte aus einer alten, angesehenen jüdischen Familie aus Mannheim und war von 1810 bis 1814 Buchhalter der jüdischen Gemeinde in Frankfurt. Sein Buch erschien im Jahr 1825, es gilt als Geburtsstunde der bis heute beliebten Ben-OniVerteidigung.
Der ungewöhnliche Titel seines Werks (Ben-Oni) soll, so Reinganum, „die Entste- hung des Werkchens“ansprechen. Im Alten Testament war Ben-Oni der Sohn Jakobs und Rahels, „der Sohn des Schmerzes“, da die Mutter bei der Geburt starb. Doch Jakob nennt seinen Sohn später auch Ben-Jamin, „Kind der Freude“. Beides erleben Schachspieler, die diese zweischneidige Verteidigung anwenden.
Mit dem Zug 1... c5 soll nach Reinganum vor allem das Damengambit vermieden, ja selbst eine Art umgekehrtes Damengambit versucht werden. Der Autor betrachtet bereits einige Varianten, die heute als AltBen-Oni bezeichnet werden. Die Varianten sind „eine eigene Manier“, seine Erfindung, wie Reiganum stolz betont.
Dem Buch war trotz aller Hoffnungen seines Autors kein Glück beschieden, wozu zu einem guten Teil ein prominenter Konkurrent beitrug. Hirsch Silberschmidt (1801–1866), einer der besten und bekanntesten Schachspieler dieser Zeit, veröffentlichte nur vier Jahre später ein Werk zum selben Thema und verriss seinen Vorgänger darin schonungslos. Das Buch und der Name des Verfassers gerieten völlig in Vergessenheit.
Dass die Zugfolge 1.d4 c5 und der Name „Ben-Oni“erinnert werden, verdanken wir vor allem dem Spielwitz des Pierre de Saint Amant (1800–1872). Der französische Beamte und Meister wandte die Verteidigung in der 2. Matchpartie in seinem Wettkampf 1843 gegen den mächtigen Howard Staunton aus England an.
Staunton – de Saint Amant 1.d4 c5 2.d5 f5 3.Sf3 d6 4.Sc3 Sf6 In der ersten Feuertaufe auf höchster Ebene baut sich Saint Amant ganz im Sinne des Erfinders dieser Verteidigung auf. 5.Lg5 Staunton weicht als Erster von Reinganums Empfehlung 5.Lf4 ab. Heute würde man in eine holländische Verteidigung mit 5.g3 g6 6.Lg2 Lg7 7.0–0 0–0 einlenken. Ein Versuch wäre das direkte 5.e4 fxe4 6.Lb5+ Sbd7 7.Sg5 wert. 5... e5 6.e4 a6 7.exf5 Lxf5 8.Sh4 Lc8 9.Ld3 g6? Bis jetzt hat sich Schwarz in der neuen Verteidigung ganz gut zurechtgefunden, doch jetzt schafft er gefährliche Schwächen, da nun stets Opfer auf g6 drohen. Nach dem ruhigen 9... Le7 10.Sf5 0–0 11.0–0 hielt sich der weiße Vorteil in Grenzen. 10.0–0?! Sofort 10.f4! e4 ( 10… Le7 11.fxe5 dxe5 12.0-0 0-0 13.Lxg6!) 11.Sxe4 Le7 12.Sxf6+ Lxf6 13.De2+ Kf7 14.0-0 hätte Schwarz wohl kaum überlebt. 10... Le7 11.f4! Noch immer sehr stark, die lebenswichtige Bauernkette c5-d6-e5 droht zerrissen zu werden. 11… c4?! Schwarz sollte 11... Sbd7 versuchen. 12.Lxc4? Viel stärker war 12.fxe5! dxe5 13.Sxg6! hxg6 14.Lxg6+ Kf8 15.d6 mit schwarzer Ruine. 12... exf4 Und hier war wieder 12... Sbd7 angebracht. 13.Txf4 Sbd7 Nach 13... 0–0 gewinnt 14.Dd4 Sg4 15.Txf8+ Dxf8 16.Lxe7 Dxe7 17.Sf3 nebst Te1. 14.Dd4 Se5 15.Te1 Sfd7 Weiß hat alle Figuren im Spiel, Schwarz wehrt sich verzweifelt. 16.Lxe7 Dxe7 17.Se4 Tf8 18.Txf8+ Schon jetzt ging 18.Sxd6+! 18... Dxf8 Oder 18... Kxf8 19.Df2+ Kg7 20.Dg3 mit der Drohung Sf5+.
19.Sxd6+! Der Zerstörer! Der schwarze König findet keine Ruhe mehr. 19... Kd8 Oder 19... Dxd6 20.Sf3 nebst Sxe5 und die Stellung zerfällt. 20.Txe5 Dxd6 21.Te3 Kc7 22.Lb3 Droht c2-c4-c5. 22… a5 23.Sf3 Sf6 24.c4 b6 25.Se5 a4 Auch 25... Dc5 26.Df4 Dd6 27.Dh6 bringt keine Linderung. 26.Lc2 a3 27.Sf7 Dc5 28.Df4+ Kb7
29.b4! Der letzte Akt, die Erlegung des Königs, beginnt. 29… Sh5 Falls 29… Dxb4, so 30.Sd6+ Ka6 31.c5! bxc5 32.Dxf6. 30.Sd8+ Ka6 31.bxc5 Sxf4 32.Txa3 matt. Da Saint Amant auch die 4. Partie verlor, in der er die neue Verteidigung versuchte, ist es kein Wunder, dass sie für einige Jahrzehnte von der Bildfläche verschwand.