Chinas Bullen lieben die Farbe Rot
Wild geht es auf Chinas Aktienmärkten nicht erst seit dem Börsencrash im Juli zu – auch oder gerade weil der Staat das Geschehen bestimmt. Die Kritik im Land an der gesteuerten Aktienspielerei wird lauter.
Wenn Schanghaier Börsenkurse auf der Achterbahn nach unten sausen, werden im Ausland oft Fotos schockierter Kleinhändler veröffentlicht, die auf tiefrote Zahlen starren. Die Bilder sind irreführend. Auf Chinas Kurstafeln leuchtet die Farbe Rot nur bei Gewinnen auf. Grün steht für Verluste. Schanghais Tageszeitung
erklärte Ende Juli: Rot sei nach Gründung der umstrittenen A-Börsen in Shenzhen und Schanghai im Dezember 1990 mit Absicht gewählt worden. Die Behörden wollten den „sozialistischen“vom „kapitalistischen Aktienmarkt“abgrenzen.
Tatsache ist, dass Inlandsbörsen in der Volksrepublik auch ein Vierteljahrhundert später noch immer eine eigene Welt für sich sind. Ihr jüngster Absturz um 30 Prozent nach einjährigem Rekordanstieg ließ die Weltmärkte mitbeben. Rasch aber merkten die Händler, dass die Kapitalmärkte vom Ausland abgeschottet sind. Ihr Fall hat zudem kaum Folgen für die das Ausland interessierende Binnennachfrage oder den Handel in der chinesischen Realwirtschaft.
Wild ging es auf Chinas Aktienmärkten immer zu, fand das street Journal heraus. Im Börsengeschehen seit 1990 war 27-mal der Bär los mit Verlusten von jeweils 20 Prozent. Seit die Partei die nach Gründung der Volksrepublik 1949 verbotenen Börsen rehabilitieren ließ, legten die Kurse acht Mal um jeweils mehr als 100 Prozent zu. Die längste Hausse hielt von 2013 bis Juni 2015 an. Schanghais Börsenindex stieg um 164 Prozent.
Chinas patriarchischer Führer Deng Xiaoping entschied, Börsen unter Vorbehalt zur Belebung der Reformen und pragmatisch zur Geldbeschaffung zu nutzen. Deng sagte 1992: „ Sind Aktien gut oder gefährlich, nur weil sie per Definition kapitalistisch sind? Können sie für den Sozialismus genutzt werden? Wir sollten mit ihnen ein, zwei Jahre experimentieren. Wenn sie sich bewähren, sollten wir sie öffnen. Wenn es schiefläuft, können wir sie wieder schließen.“
Staat gibt den Ton an
Bis heute dominieren wertmäßig Staatsunternehmen die Inlandsbörsen. Zum Handel sind Ausländer erst vor wenigen Jahren über besondere Fonds und in beschränktem Umfang zugelassen. Aktien dürfen täglich nur um maximal zehn Prozent fallen. Spekulieren heißt auf Chinesisch „mit Aktien spielen“. Wirtschaftsreformer Wu Jinglian nennt Börsen reines „Roulette“. Sie seien schlimmer, weil viele dem Glück nachhelfen, schimpfte einst der verstorbene Marktwirtschafter Dong Fureng im Gespräch mit dem STANDARD. Dong verlangte nach transparenten Regeln gegen Insiderhandel.
Doch schiere Größe des Marktes macht Chinas Aktienhandel so beeindruckend, dass sein Absturz nun alle Welt verwirrte. Im Rekordmonat Juni waren die 2700 AAktiengesellschaften des Landes rund 10,1 Billionen Euro wert. Davon lösten sich 2,75 Billionen Euro innerhalb von drei Wochen auf. Hunderttausende Kleinanleger waren ruiniert, weil sie erst im Mai aufsprangen und sich Aktien auf Pump kauften.
Partei, Regierung und eigene Gier hatten die Anleger an die Börsen getrieben. Die Zentralbank ließ durch Zinssenkungen neue Geldströme in den Aktienkauf leiten. Die Börsenaufsicht überschwemmte den A-Markt mit Neuemissionen. Der Zugang zu den Börsen wurde für Sozialfonds erleichtert. Propaganda sorgte für Kaufstimmung. Paradebeispiel war das Parteiorgan tung. Am 21. April titelte es auf seiner Finanzwebseite, als sich der Aktienindex nach einem Jahr verdoppelt hatte: „4000 Punkte sind für Chinas A-Bullenmarkt nur der Anfang.“Der Artikel, der überall nachgedruckt wurde, verhöhnte ausländische Skeptiker, die vor der „Blase“warnten. „China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, folgt klaren Zielen, ist politisch stabil, sozial sicher und wirtschaftlich gesund.“
99 Prozent Kleinstanleger
Dahinter steckte Kalkül, schrieb das Berliner China Studieninstitut „Merics“. Mit dem künstlichen Börsenboom sollte Chinas schwächelnde Wirtschaft belebt, die Unternehmen entschuldet und Nachfrage stimuliert werden. Weil der Staat dahinter steckte, spielten alle verrückt. Allein im April öffneten mehr als 600.000 Neuanleger täglich Aktienkonten in Schanghai und Shenzhen. Kantons Tageszeitung bao schrieb von 100 Millionen im Mai registrierten Aktionären, darunter 99 Prozent Kleinstanleger mit 189 Millionen Konten. Der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua zufolge zockte auch jeder dritte Student (31 Prozent) mit.
Als der Staat im Juli plötzlich seine Unterstützung der Börsen zurückfuhr, brach Panik aus. Pekings Behörden reagierten mit massiven Eingriffen und Manipulationen des Marktgeschehens, um den Fall ins Bodenlose zu stoppen. Nach dem Crash hat in China eine überfällige Debatte um die Zukunft der Reformen begonnen.
Markt- versus Planwirtschaft
Eine der Wortführerin ist das Pekinger Finanzmagazin Jetzt schrieb es: „Das Kernproblem ist der unterentwickelte Kapitalmarkt“, nicht aber ein Zuviel an Marktöffnung. Oberwasser witternde Kritiker wollten weitere Schritte zur Freigabe der Bankzinsen und zur vollen Konvertibilität der Währung verlangsamen. Es sei „unwürdig“, wie jetzt falsche Schuldige ausgemacht würden. „China hat so wenig Fortschritte bei der Öffnung seiner Kapitalmärkte und beim Zugang von Ausländern zu seinen Aktienmärkten gemacht, dass diese beiden nicht für das Börsenchaos verantwortlich gemacht werden können.“
Die Debatte über mehr Markt oder mehr Plan ist wieder belebt. Sie kommt auch vor dem Hintergrund befürchteter Rückschläge für die Internationalisierung der chinesischen Währung. So will der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Entscheidung über eine Reform der Sonderziehungsrechte verschieben. Ursprünglich wollte der IWF den Renminbi schon vor Ende des Jahres als weitere Weltwährungsreserve aufnehmen. Peking muss zudem befürchten, dass dem Land 15 Jahre nach seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) nicht automatisch 2016 der Marktwirtschaftsstatus von der WTO zugesprochen wird. Das Börsendesaster hat die Tücken des halbreformierten Mischsystems in China offengelegt.