Neue Zeit in Nordkorea
Pjöngjang sieht Widerstand gegen japanische Kolonialverordnung von 1912
Diktator Kim Jong-un lässt die Uhren um eine halbe Stunde verstellen – als späten Widerstand gegen die japanische Besatzungsmacht.
Pjöngjang/Wien – Wenn in Nordkorea ab dem 15. August die Uhren um eine halbe Stunde verstellt werden, dann sieht die Regierung das als politischen Akt. Konkret gehe es darum, ein „unverzeihliches Verbrechen“aus der japanischen Kolonialzeit rückgängig zu machen, präzisiert eine Mitteilung der staatlichen nordkoreanischen Nachrichtenagentur KCNA: Die Besatzer hätten in der Periode zwischen 1910 und 1945 nämlich nicht nur zahlreiche koreanische Kulturgüter und Traditionen zerstört, sondern auch vor der „Koreanischen Standardzeit“nicht haltgemacht, die in der 5000-jährigen Geschichte des Landes verankert sei.
„Pjöngjang-Standardzeit“heißt die neue, nur in Nordkorea gültige Zeitzone. Und nicht nur die Hintergründe, auch die Folgen sind politisch: Das Land schafft sich ein weiteres Nationalsymbol – und es entfernt sich einmal mehr symbolisch von Japan und dem Nachbarn Südkorea.
In Seoul hat man Verständnis für den Verweis auf die Kolonialzeit. Denn tatsächlich – so weit fußt Nordkoreas Propaganda auf Tatsachen – schafften die Japaner eine 1908 eingeführte, gemeinsame Koreanische Zeitzone 1912 per Dekret wieder ab. „Aus praktischen Gründen“werde man selbst aber an der bestehenden Regelung festhalten, hieß es am Freitag. Man hoffe, dass es im Pendelverkehr, etwa in der gemeinsamen Industriezone Kaesong, keine Probleme gebe und darauf, dass die Zeitzone die zwei Koreas nicht weiter voneinander entferne.
„Widerstand gegen Diktat“
Mit der politischen Entscheidung rund um die Zeitzone ist Nordkorea keineswegs allein: Erst im Jahr 2007 ordnete etwa Venezuelas mittlerweile verstorbener linksgerichteter Präsident Hugo Chávez an, die Uhren um eine halbe Stunde zu verstellen. Er argu- mentierte damals mit den Auswirkungen auf den menschlichen Stoffwechsel – und mit dem Widerstand gegen die USA, die anderen Staaten befehlen würden, Zeitzonen nur in Intervallen von vollen Stunden zu gestalten.
Wenig mit der biologischen Uhr ihrer Bürgerinnen und Bürger, aber viel mit Politik haben auch die Zeitzonen in Indien und China zu tun – in beiden Fällen geht es um die politische Bestrebung, Einheit in einem gemeinsamen Riesenstaat zu zeigen. In Indien, wo die gemeinsame Zeitzone, die ebenfalls eine halbe Stunde vom internationalen Trend abweicht, mit der Unabhängigkeit 1947 eingeführt wurde, regen sich aber immer wieder Proteste in den östlich und westlich gelegenen Gebieten.
Unabhängigkeitsbewegungen in den westlichen Gebieten Chinas, wo dank „Pekinger Standardzeit“die Sonne im Sommer gegen acht Uhr früh auf-, und gegen 22 Uhr untergeht, verwenden die Zeitzone als Argument gegen den Pekinger Zentralismus.
Ebenfalls eine halbe Stunde vom weltweiten Trend entfernt ist die nur im Iran gültige „Teheran Standard Time“– diese war allerdings schon vor der Islamischen Revolution Ende der 1970er-Jahre gültig. Sie ergibt sich daraus, dass das Land zwischen zwei Zeitzonen liegt, wie es heißt. (mesc)