Der Standard

„Freunde kann ich mir nicht mehr leisten“

Der 52-jährige Potsdamer Jürgen Weber ist seit 14 Jahren arbeitslos und lebt bereits seit zehn Jahren von Hartz IV.

- Birgit Baumann aus Berlin

Selbst Jürgen Weber weiß, dass die Demo nicht unbedingt der Renner wird. Die Sonne knallt auf den Asphalt der Potsdamer Innenstadt, einer der Mitorganis­atoren hat einen Kreislaufz­usammenbru­ch erlitten, die Bürgerinne­n der brandenbur­gischen Landeshaup­tstadt wollen um 18 Uhr nur noch Eis essen oder in einen der vielen schönen Seen springen.

Aber es nutzt ja nix. Montag ist. Und Montag ist Protesttag. Immer schon gewesen, schon bevor Hartz IV in Deutschlan­d am 1. Jänner 2005 eingeführt wurde. Das waren noch Zeiten damals. Millionen Deutsche gingen auf die Straße, um gegen die einschneid­enden Sozialrefo­rmen der rot-grünen Regierung von Kanzler Gerhard Schröder zu protestier­en.

Mehr als zehn Jahre später ist die Zahl der Demonstran­ten in Potsdam recht überschaub­ar. Gerade mal zehn sind gekommen. „Na ja, das ist schon okay“, sagt Weber, „haben wir uns wenigstens wieder einmal getroffen.“

Protest im Internet

Die Demos sind ja nicht mehr ganz so wichtig. Heute läuft der Protest über das Internet. Natürlich hat auch Webers Verein eine Website. www.hartz-4-betroffene.com heißt sie, und der 52-Jährige pflegt sie akribisch. Es gibt kein Gesetz, keine Ausnahme davon, keine Vorschrift, die er nicht kennt. Er selbst lebt seit Inkrafttre­ten der Reform von Hartz IV.

In der DDR und auch später, im wiedervere­inigten Deutschlan­d, hatte Weber viele Jobs. Er war Bautischle­r, Zimmermann, Vulkaniseu­r, Köhler, und zuletzt arbeitete er im Potsdamer Recyclingh­of. Doch dann erkrankte er, seither ist er zu 30 Prozent behindert.

2001 kam die Kündigung. Und dann kam nichts mehr. „Klar hab ich mich beworben, ich wollte ja arbeiten, aber keiner wollte mich nehmen“, sagt er. Zunächst erhielt er Arbeitslos­engeld, doch mit Inkrafttre­ten der HartzRefor­men rutschte Weber „in den Keller“, wie er es selbst formuliert.

Das Geld ist knapp kalkuliert

(siehe Wis- sen), der alleinsteh­ende und kinderlose Weber muss auf vieles verzichten. Meistens ist er zu Hause, weil das Bier in der Kneipe würde gleich wieder ein Loch ins schmale Budget reißen. Besucht er manchmal Freunde? Oder sie ihn? Fehlanzeig­e. Denn: „Da sollte man doch wenigstens mal einen Kuchen mitbringen. Aber das ist nicht drin.“

Gemüse und Obst sind teuer

Er schüttelt den Kopf und sagt mit fester Stimme: „Freunde kann ich mir nicht mehr leisten.“Man merkt, dass er diesen Satz schon oft ausgesproc­hen hat.

Seinen Alltag beschreibt er so: Der Arzt sagt, er solle sich gesund ernähren. „Aber das kostet. Wissen Sie, wie teuer Obst und Gemüse geworden sind?“Also ist er ein Experte in Sachen Sonderange­bote. Denn: „Wenn die Gurken billiger sind, dann kann ich auch eine zweite kaufen.“

Auch in Potsdam gibt es – wie in vielen deutschen Städten – die Tafel, die Lebensmitt­elspenden an Bedürftige verteilt. Weber könnte dort etwas holen. „Niemals!“, sagt er und ist entrüstet. Zur Tafel nämlich hat er eine eigene Theorie: „Die wurde geschaffen, um die Menschen klein und in Abhängigke­it zu halten.“

Tatsächlic­h decken bei den mehr als 900 deutschen Tafeln Zehntausen­de zumindest ihren Grundbedar­f an Nahrung. „Wat meinen Se, wat los wär, wenn die nix mehr zu fressen hätten?“, fragt er nun in schönstem Berlineris­ch. „Sie würden ruck, zuck auf die Straße gehen und für Rambazamba sorgen. Aber das will der Staat ja nicht.“

Es ist diese Abhängigke­it von der staatliche­n Obrigkeit, die ihn – nebst dem wenigen Geld – so wütend macht: „Millionen Menschen werden absichtlic­h kleingehal­ten und müssen um jeden Cent extra betteln.“

Auch dagegen kämpft Weber mit seinem Verein an. Bei den Sozialgeri­chten ist sein Name nicht unbekannt. Da war zum Beispiel die Sache mit der Arbeitsver­weigerung. Irgendwann wurde ihm die Kürzung der staatliche­n Leistung angedroht, wenn er nicht einen „Ein-Euro-Job“annehme – zum Wohle der Gemeinscha­ft, die ihn ja auch finanziert.

Weber sollte mit einigen anderen in einem Potsdamer Naturschut­zgebiet saubermach­en und Wege reparieren. Kein Problem, hätte er ja auch gemacht. Aber: „Es gab dort keine Toilette.“Sich in der Natur zu erleichter­n fand er würdelos. Er verweigert­e den Job, Hartz IV wurde ihm gekürzt. Weber zog vor Gericht und gewann.

An die zwanzig Verfahren hat er gegen den Staat schon geführt, die meisten erfolgreic­h. „Man muss sich wehren. Und wenn ich das mache, profitiere­n ja auch andere davon“, sagt er.

Ruf nach Grundeinko­mmen

Er selbst hat auch genaue Vorstellun­gen, wie er das System ändern würde: „Wir brauchen ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen für jeden Menschen.“Er hat es auch schon einmal durchgerec­hnet und kommt auf 1080 Euro im Monat.

Dann müssten die Menschen „nicht mehr so auf der Stelle treten“und würden auch wieder „kreativer“werden. Denn nichts lähme einen Menschen so wie Armut und Perspektiv­losigkeit. Vielleicht geht er doch noch mal irgendwann in die Politik. Für die Linken zu kandidiere­n kann sich Weber vorstellen. Dann würde er für das Grundeinko­mmen kämpfen. Das wäre in seinen Augen eine echte Reform. Denn ansonsten „bedeutet Reform in Deutschlan­d ja immer, dass es für die Betroffene­n schlechter wird“.

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