Marshalls noble Gabe
Sohn des Schmerzes, Kind der Freude: Ben- Oni – Geschichte einer Verteidigung (II). Von ruf & ehn
Knapp vor seinem 50. Geburtstag widerfuhr Frank Marshall (1877–1944) Seltsames. Er nahm am Turnier von New York 1927 teil, das in einem Rundenturnier der Weltelite den Herausforderer für Weltmeister Capablanca bestimmen sollte. Der US-Großmeister wurde bekanntlich mit Abstand Letzter, und so wurde von seinen Partien kaum Notiz genommen. Alle beklagten bloß, wo denn die alte „Marshall-Herrlichkeit“geblieben sei. Denn der Amerikaner hatte von jeher den Ruf, in seinen Partien mit äußerst gewitzten Opfern die Gegner zu verwirren, man sprach von „Marshalls Schwindeln“. Marshall schien als junger Mann mit seinem verwirrenden kombinatorischen Stil Neuland zu betreten, ein amerikanischer Held, der in der Lage war, der modernen Verwissenschaftlichung des Schachspiels in Europa durch brachiale Direktheit Paroli zu bieten. Nun gut, der Mann trank hie und da ein Glas zu viel, doch fand Marshall mit seinem Spiel rasch Anklang. Dennoch blieb er der gutmütige, stets unterschätzte „Frankie“.
Dabei machte Marshall der Schachwelt in New York ein wahrlich großes und nobles Geschenk, für das er viel Zeit und Analyse aufgewendet hatte. Er hatte im Alleingang eine ganz neue Verteidigung gegen 1.d4, die moderne Ben-Oni-Verteidigung erfunden, mit dem Fianchetto des Königsläufers, doch ohne e7-e5. Vielmehr bricht Schwarz mit e7-e6 das weiße Zentrum auf. Doch niemand erkannte das Potenzial, das in der neuen Verteidigung schlummerte. Unverständnis herrschte selbst bei den größten Spielern und Kommentatoren dieser Zeit, die Marshalls Eröffnungszüge rügten. Aljechin kritisierte aus psychologischer Perspektive, und es mutet seltsam an, dass gerade Nimzowitsch Marshall Extravaganz in der Eröffnung vorwirft. War er es nicht einst selbst, auf den dieses Prädikat über die Maßen angewendet wurde? Noch seltsamer der Fall Tartakower: Er spielte die Alt-Ben-OniVerteidigung selbst bereits 1907 in Ostende gegen Rubinstein und von Scheve. Er kannte Karel Hromádka und sein tschechisches Ben-Oni seit 15 Jahren und konnte sich trotzdem für Marshalls neues Konzept nicht erwärmen. In seinem Mammutwerk Die Hypermoderne Schachpartie, die ja wirklich in jedem nur denkbaren Winkel der Eröffnungstheorie Nachschau hält, wird diese Verteidigung bloß in einer winzigen Randnotiz erwähnt. Nach New York verschwand Marshalls Gabe ungerechterweise für fast 20 Jahre wieder von der Bildfläche. Schuld daran war wohl auch die folgende Partie. 1.c4 Sf6 2.d4 e6 3.Sf3 c5 4.d5 d6 5.Sc3 exd5 Das ist Frank Marshalls kreative Idee, die ein völlig neues Verteidigungssystem zeigt, das moderne Ben-Oni. Während im alten Ben-Oni Schwarz stets e7-e5 spielte, hält Marshall die Diagonale h8-a1 für seinen Lg7 offen und tauscht den e-Bauern, um die Bauernmehrheit am Damenflügel und die halboffene e-Linie zu haben. 6.cxd5 g6 7.Sd2! Am Brett findet Aaron Nimzowitsch ein Manöver, das auch heute noch Standard ist. Der Springer strebt nach Absicherung durch a2-a4 nach c4, übt Druck auf d6 aus und hilft Weiß, den gefährlichen Vorstoß e2e4-e5 durchzusetzen. 7… Sbd7 8.Sc4 Sb6 9.e4 Lg7 10.Se3 Will mit a2-a4-a5 den schwarzen Springer vertreiben, um selbst wieder auf c4 Platz zu nehmen. 10… 0–0 11.Ld3 Sh5 12.0– 0 Le5 Etwas besser war, wie wir heute wissen, 12... Sf4 13.Lc2 Le5 14.g3 Sh5 15.f4 Ld4 16.Sb5 Lh3 mit gleichen Chancen. 13.a4 Sf4 14.a5 Sd7 15.Sc4 Da ist er wieder. 15… Sxd3 16.Dxd3 f5 17.exf5 Txf5 18.f4?! Nimzo lässt sich zu einem überstürzten Angriff hinreißen. Das positionelle 18.Se4 hätte ihm Vorteil gebracht. 18... Ld4+ 19.Le3 19… Lxc3! Erobert einen Bauern. 20.Dxc3 Auch nach 20.bxc3 Sf6 ist der Bd5 nicht zu halten. 20... Sf6 Nicht aber sofort 20... Txd5?! 21.f5! gxf5 22.Tad1 und Schwarz gerät unter Druck. 21.Db3 Ein listiger Zug, die Dame schielt Richtung Kg8. 21… Txd5 Ob hier nicht 21... Sxd5 besser gewesen wäre, lässt sich auch nach fast 90 Jahren kaum entscheiden. 22.f5! Nimzowitsch ergreift seine einzige Chance und öffnet die Stellung gegen den schwarzen König. 22… gxf5? Ein schwerer Fehler in scharfer Stellung, nach dem die Partie schon gelaufen ist. Mit 22... Lxf5 23.Dxb7 Tc8 24.Dxa7 Ta8 hätte Marshall die Lebensfähigkeit seiner neuen Verteidigung beweisen können. 23.Lg5! Plötzlich ist Schwarz an Händen und Füßen gefesselt. 23… Td4? Auch nach dem besseren 23... h6 24.Lxf6 Dxf6 25.Se3 Le6 26.Dxb7 ist die Lage prekär. 24.Sb6+ Gewinnt die Qualität. 24… c4 25.Dc3 axb6 26.Dxd4 Kg7 27.Tae1! Der schnellste Weg. 27… bxa5 Nach 27... h6 folgt 28.Lxf6+ Dxf6 29.Dxc4 mit Einkreisung.
Zaubert einen Mattangriff aus dem Hut. 28... Dxe8 29.Dxf6+ Kg8 30.Lh6 Das Matt ist nicht mehr zu verhindern, daher 1–0