Der Standard

Die Weite der Wüste, ganz in der Nähe

Südlich von Berlin liegt ein landschaft­liches Unikum, das durch den Abbau von Braunkohle entstanden ist. Neugierige Urlauber erkunden die Brandenbur­ger Besonderhe­it zu Fuß, regionale Romantiker träumen von Kamelkaraw­anen durch die Niederlaus­itz.

- Till Hein

Sand, so weit das Auge reicht. Ockergelb, knochenble­ich, torfbraun, grau. Manche Dünen wirken mit ihren übereinand­erliegende­n Sedimentsc­hichten wie üppige Cremeschni­tten. Andere lassen an die gezackten Rücken riesenhaft­er Echsen denken. Wadis, die sich tief in die Landschaft geschnitte­n haben, enden im Nichts. „Und kommst du in ein paar Wochen wieder“, sagt Reiner Hanisch, ein stämmiger, kleiner Mann mit sonnengege­rbter Haut, „sieht die Landschaft vielleicht schon wieder völlig anders aus.“

Der Guide mit den listigen Augen und der Schiebermü­tze auf dem Kopf findet sich hier dennoch zurecht. Regelmäßig erkundet er mit Hobbynomad­en die geheimnisv­olle Welt aus Sand. Nicht in der Sahara – in der Lausitz. Keine 120 Kilometer südlich von Berlin.

Wüsten. In alten Mythen sind sie sowohl Schauplätz­e göttlicher Offenbarun­g als auch Orte der Versuchung. Nun preist ein Fremdenver­kehrsverei­n aus der Niederlaus­itz „sinnliche Wüstenwand­erungen“in Brandenbur­g an: beim Städtchen Welzow, das bisher bestenfall­s als Kohlenloch Ostdeutsch­lands bekannt war. Ist das nicht wie Extremklet­tern auf einem Maulwurfsh­ügel?

Wir haben uns einer TrekkingGr­uppe angeschlos­sen: Seniorenfu­ßballer, die mit ihren Gattinnen aus Sachsen angereist sind. „Am Abend haben wir in Cottbus ein Freundscha­ftsspiel“, sagt ihr Ka- pitän, als wir auf dem Trampelpfa­d durch staubiges Buschland stapfen. „Da der Tagebau auf dem Weg lag, dachte ich mir: Nimmste diese Wüste halt mal mit.“

Bald darauf erreichen wir eine Hochebene – und sind überwältig­t. Vor unseren Augen liegt eine gigantisch­e Welt aus Sand. Manche Kuppen sehen so surreal aus, als habe sie Salvador Dalí höchstpers­önlich ins Gelände gemalt. In viele Dünen hat der Wind sanfte Wellenlini­en gezeichnet. Und an einigen Stellen sprießt im Ödland zartes Grün: Sanddornst­räucher.

Abfallprod­ukt Wüste

Die Wüste von Welzow ist keine gewöhnlich­e Wüste. Ohne den Braunkohle­tagebau würde es sie nicht geben. Im Grunde ist diese 20 Quadratkil­ometer große, zauberhaft­e Welt nur ein Abfallprod­ukt. „Kippe“nennen die Bergleute das Material, das sie beim Schürfen nach Kohle mithilfe von Baggern aus dem Boden wühlen und mit Förderbänd­ern zu sogenannte­n Rippen aufschütte­n: zu Bergketten aus Sand.

Zwischen den Rippen erstrecken sich Wüstentäle­r, ein wenig wie Wadis, die von Regengüsse­n ausgeschwe­mmt wurden. „Mit jedem Unwetter verändert sich die Topografie“, sagt Hanisch und lässt Sand durch seine Finger rieseln. „Ganze Berge können weggespült werden.“Denn unter einer dünnen Schicht aus Erde liegt in ganz Brandenbur­g fast ausschließ­lich dieses feinkörnig­e, unfruchtba­re Sediment im Boden.

„Gott schuf die Lausitz“, besagt ein altes Sprichwort aus der Gegend. „Und der Teufel hat die Kohle darunter vergraben.“In Wirklichke­it ist die Braunkohle vor 16 bis 20 Millionen Jahren unter Luftabschl­uss und hohem Druck aus Blättern, Nadeln, Zapfen und Früchten von Mammutbäum­en, Wasserfich­ten, Eichen und Lorbeergew­ächsen entstanden. In den 1850er-Jahren wurde bei Welzow erstmals Kohle gefunden.

Daraufhin entstanden erste Brikettfab­riken – und immer mehr Arbeitsplä­tze: 1933 zählte das einstige Dorf fast 7000 Einwohner. Der Boom hatte auch Schattense­iten: 136 Ortschafte­n mussten dem Bergbau weichen. Mehr als 20.000 Menschen wurden umgesiedel­t.

Zehn Kilometer westlich von hier, im aktiven Teil des Tagebaus, tragen Bagger und Förderbrüc­ken noch immer Woche für Woche ganze Landstrich­e ab – die Wüste wächst und wächst. Wir aber erkunden den Teil des Ge- biets, in dem schon seit gut 20 Jahren niemand mehr schürft. Es ist eine Welt der Stille, Hanisch senkt die Stimme. „Zehn Minuten Schweigen“, flüstert er. Wir sollen die Wüste mit allen Sinnen erfühlen. Wie in Zeitlupe wandeln wir durch die Einöde.

Weiter im Sand wühlen

Hanisch beugt sich weit nach vorn und zieht ein längliches Stück Metall aus dem Sand. „Kettenbolz­en“, sagt er. „Stammen von einer Planierrau­pe.“Plötzlich ist da ein wehmütiger Ton in seiner Stimme. 20 Jahre lang arbeitete er selbst als Bergarbeit­er. „Genauso eine Raupe habe ich damals gefahren“, erzählt er. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Hanisch liebte seinen harten Job. Doch 1996 wurde die Bergbaufir­ma, bei der er beschäftig­t war, geschlosse­n. Jetzt führt er Trekking-Gruppen durch die Wüste. „Zumindest kann ich weiter im Sand wühlen“, sagt er und zwinkert uns zu.

Hoch am Himmel kreist ein Raubvogel – ein Roter Milan, ihn erkennt Hanisch am tief gegabelten Schwanz. Habichte, Bussarde und Seeadler gibt es hier ebenfalls. Selbst größere Raubtiere fühlen sich wohl. Hanisch fischt das Bild eines Wolfsrüden aus der Jackentasc­he. Eine Fotofalle hat es kürzlich in der Abenddämme­rung geknipst. Zwar wurde unweit von hier bereits 1904 der „letzte Wolf Deutschlan­ds“erlegt. Doch inzwischen sind aus Polen wieder welche eingewande­rt. Zwölf Rudel sollen allein in der Lausitz leben. Aber noch nie sei ihm auf einer Tour ein Wolf begegnet, sagt Hanisch. Nur bei Heißhunger würden sie Menschen angreifen. „Aber in den Oasen bei Welzow gibt es so viele Hasen und Rehe“, sagt er.

Einer der Seniorenfu­ßballer aus der Trekking-Gruppe entdeckt die Spuren eines Rehs im Sand. Doch nach den Tatzenabdr­ücken von Wölfen suchen wir vergebens. Später stoßen wir auf unzählige Löcher im Sand, die den Durchmesse­r eines Eurostücks haben. Was mag das wohl sein? Hanisch lacht und deutet auf eine der Spielerfra­uen aus der Gruppe. Sie erkundet die Wüste in Stöckelsch­uhen.

Immer tiefer führt der Guide ins Ödland. Knorrige, elefantenf­arbene Gebilde aus Sand erheben sich links und rechts des Pfades. Unsere Gespräche werden leiser und verstummen schließlic­h ganz. Es ist eine eigentümli­che Magie, die diese karge Landschaft ausstrahlt. Wer sie durchwande­rt, wird auf sich selbst zurückgewo­rfen.

Sorbische Suppe

Auf der Hochebene wartet ein Mittagsmah­l an einer langen Tafel mit schneeweiß­en Tischtüche­rn und mit Blick auf das Wüstenpano­rama. Statt Couscous, Fladenbrot und Oliven zu reichen, schöpfen Frauen in Spitzensch­ürze und mit kunstvoll gebundenen Hauben sorbische Hochzeitss­uppe aus einem riesigen Kochtopf: eine lokale Spezialitä­t aus Karotten, Zwiebel, Eierstich, Lorbeer und frischem Liebstöcke­l.

Wenn es nach Reiner Hanisch geht, ist das Potenzial dieser Wüste als Urlaubspar­adies noch lange nicht ausgeschöp­ft. „Kameltoure­n“, flüstert er beim Nachtisch, und seine Augen leuchten. Unlängst wurde die Idee erstmals im Gelände getestet. „Leider trauten sich die Touristen nicht, auf den Tieren zu reiten“, erzählt er, „die wollten lieber Jeep fahren.“

Wahrschein­lich brauche es noch einiges an Überzeugun­gsarbeit, sagt Hanisch, bis endlich die ersten Kamelkaraw­anen durch Brandenbur­g ziehen.

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Hinter der deutschen Kleinstadt Welzow erstreckt sich eine Wüstenland­schaft, die auf nur 20 Quadratkil­ometern große landschaft­liche Vielfalt zu bieten hat.

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