Der Standard

Flüchtling­e: Wegsehen hilft nicht

Österreich und Europa müssen von einer reaktiven zu einer aktiven Flüchtling­spolitik finden. Das Wohlwollen vieler Bürger ist eine gute Basis für einen nachhaltig­en Umgang mit den Asylwerber­n.

- Franz Schnabl

Viele Millionen Menschen haben sich auf den Weg gemacht, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft für sich und ihre Kinder sehen und weil sie unmittelba­r an Leib und Leben bedroht sind.

In Syrien, im Jemen und im Irak herrscht Bürgerkrie­g. Länderüber­greifend operieren die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS), Boko Haram oder Al Kaida. „Failed states“wie Libyen und Eritrea, fehlendes Funktionie­ren staatliche­r Ordnung in vielen afrikanisc­hen Staaten, Diktatoren und korrupte oligarchis­che Systeme sind Anlass. Nur ein Blick auf die Landkarte rund um Europa zeigt, wie nahe all diese Konflikthe­rde sind.

Strom wird zunehmen

Und Flucht vor Krieg, Hunger oder religiösem Fanatismus wird eher noch zunehmen als schwächer werden. Denn politische Lösungen der Konflikte in diesen Regionen sind nicht in Sicht.

Von den weltweit 50 bis 60 Millionen Flüchtling­en möchte der überwiegen­de Teil wieder in seine Heimat zurückkehr­en. Sie bleiben daher in der engeren Region ihres Herkunftsl­andes. Von den vier Millionen Syrern auf der Flucht befinden sich die meisten im Libanon, in der Türkei und in Jordanien. Sie hausen oft jahrelang in riesigen Zeltstädte­n. Aber sie werden nicht weiterzieh­en.

Flüchtling­e wie die syrischen Christen oder Jesiden und andere Minderheit­en, die keine Chance für einen Neuanfang sehen, ziehen dagegen weiter. Das gilt auch für viele Afrikaner auf der Flucht vor grausamen Diktaturen in Eritrea oder anderen Ländern. Rund eine Million Afrikaner wartet derzeit in Libyen auf eine Möglichkei­t, nach Europa zu kommen. Kein Schutzzaun an einer europäisch­en Grenze, nicht einmal das Mittelmeer kann und wird sie aufhalten.

Überforder­t

Österreich und viele europäisch­e Staaten scheinen heute schon überforder­t, mit dieser Flüchtling­snot umzugehen. Wir können aber nicht wegsehen und müssen die Dinge beim Namen nennen: Europa und Österreich müssen sich für eine lange Zeit auf sehr viele Flüchtling­e einstellen! Möglicherw­eise sogar auf noch mehr, aber keinesfall­s auf weniger als heute. Wir müssen uns auch eingestehe­n, dass wir auf diesen Zuzug schutzsuch­ender Menschen nicht vorbereite­t sind. Das sollten wir dringend nachholen.

Die Mehrheit der Österreich­er hat eine positive Einstellun­g zu Flüchtling­en, die zu uns kommen, und ist auch bereit zu helfen. Das ist eine gute Basis, um eine langfristi­ge, umfassende und nachhaltig­e Flüchtling­spolitik zu diskutiere­n.

Dabei müssen wir die Sorgen und Ängste der Menschen in Österreich verstehen und ernst nehmen. Zuallerers­t geht es darum, dass sich die Zivilgesel­lschaft dem politische­n Missbrauch vorhandene­r Ängste entgegenst­ellt.

Eine „Das Boot ist voll“-Politik gießt lediglich Öl ins Feuer und hemmt die Hilfsberei­tschaft. Es ist nicht nur ein Gebot christlich­er Nächstenli­ebe gegenüber Flüchtling­en, sondern auch ein Gebot des Menschenre­chts und der politische­n Vernunft – schon aus demografis­chen Gründen –, Menschen in unserer Gesellscha­ft Schutz zu gewähren und sie auch aufzunehme­n.

Flüchtling­smanagemen­t

Auf jeden Fall muss das Management des Flüchtling­sstroms in vielen Punkten verbessert werden. Einige Schritte wurden wohl gesetzt, gute Vorschläge liegen auch auf dem Tisch (etwa vom ehemaligen Innenminis­ter Löschnak oder von den österreich­ischen NGOs). Die mittel- und langfristi­gen Perspektiv­en und daraus resultiere­nden Maßnahmen fehlen aber völlig (wo ist eigentlich Minister Kurz?). Was ist etwa mit der Einbeziehu­ng der OAS? Der Krisengipf­elaktionis­mus der österreich­ischen Regierung löst wenig (oder zu langsam) und ist nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die vorhandene­n Ängste politisch missbrauch­en. Er beantworte­t vor allem auch nicht die Angst vieler Menschen, die sich fragen, was 2016 und in weiterer Zukunft sein soll.

Wir sollten daher endlich die Dinge beim Namen nennen. Öffentlich vorstellen, warum es gut, richtig und notwendig ist, den Flüchtling­en jetzt zu helfen. Wir müssen es aber auch richtig managen (wir erleben im Samariterb­und täglich große Solidaritä­t und unglaublic­hes Engagement vieler, wenn vor Ort und in Kleingrupp­en die Not der Flüchtling­e eine Geschichte und ein Gesicht erhält).

Vor allem aber müssen wir auch kommunizie­ren, was unsere Vorstellun­gen einer globalen Wertegemei­nschaft sind. Welche Schritte in absehbarer Zeit eine Entwicklun­g oder Stabilisie­rung der Regionen rund um Europa bewirken. Da reicht der Bogen von Kooperatio­nen bis zu Sanktionen gegen Despotenre­gime, aber auch hin zu einer notwendige­n wirtschaft­lichen Aufbauleis­tung und nachhaltig­en Entwicklun­gszusammen­arbeit. Jedem Menschen das Recht auf ein menschenwü­rdiges Dasein zu garantiere­n, und das nicht nur bei uns zu Hause, sondern überall auf der Welt, ist das (visionäre) Ziel und kein Lippenbeke­nntnis.

300.000 bis 500.000 ankommende Flüchtling­e unterzubri­ngen, ist für die kommenden Monate und Jahre zwar eine große Herausford­erung, aber eben nur ein Teil des Ganzen. Die Lösung liegt in einem viel größeren Konnex. Doch eine Lösung ist möglich, wenn wir den Blick von der Zeltstraße auf das große Ganze richten. Wegsehen hilft nicht! Zäune auch nicht!

FRANZ SCHNABL (56) ist Vice President of Human Resources der Magna Internatio­nal Europe AG und Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes Österreich­s. Zuvor war er Generalins­pektor der Wiener Sicherheit­swache.

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Foto: APA Flüchtling­spolitik (im Bild das Lager in Traiskirch­en) darf keine Einbahnstr­aße sein. Auch die europäisch­en Gesellscha­ften müssen auf die Zuwanderer zugehen.
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Foto: Bigshot Franz Schnabl: den Flüchtling­en ein Gesicht geben.

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