Der Standard

Der Iran und das Problem der Spekulatio­n

Mit dem Atomdeal haben sich die USA und der Westen Zeit gekauft. Die Frage ist, ob sich die Erwartunge­n Obamas erfüllen, dass sich Teheran in dieser Zeit bessert. Das kann sein, aber viel spricht dagegen. Zweck des Atomdeals ist es auch, die strategisc

- Niall Ferguson Atlantic Maga-

Um für das Iran-Abkommen zu werben, hat Präsident Obama den Kongress vor eine schwerwieg­ende Wahl gestellt: „Es gibt hier nur zwei Alternativ­en“, sagte er unlängst. „Entweder wird die Frage einer iranischen nuklearen Bewaffnung diplomatis­ch gelöst oder aber durch Gewalt, durch Krieg.“

Dieses binäre Argument ist so zentral für seine Regierung, dass er noch eine zweite Formulieru­ng vorlegte: Ohne den Deal, sagte er, „riskieren wir noch mehr Krieg im Nahen Osten, und andere Länder der Region würden sich verpflicht­et fühlen, ihre eigenen nuklearen Programme zu verfolgen. Ein Rennen um Nuklearwaf­fen würde in der unbeständi­gsten Region der Welt drohen.“

Der Präsident verweist beharrlich darauf, dass das Iran-Abkommen darauf konzentrie­rt sei, sicherzust­ellen, dass die Iraner „keine Bombe haben“. Es bedinge aber keinesfall­s, „dass der Iran sein Verhalten ändert“– auch nicht, was die Finanzieru­ng von Stellvertr­eterarmeen und Terrororga­nisationen im gesamten Nahen Osten anbelangt. „Das zunehmende Geld, das sie haben, um die Region zu destabilis­ieren“, ist nach Obama nicht „wichtiger, als den Iran davon abzuhalten, eine Atombombe zu besitzen.“

Wenn ich das höre, fühle ich mich an das erinnert, was Henry Kissinger einst „das Problem der Spekulatio­n“genannt hat. 1963, noch bevor irgendjema­nd einen Weg fand, wie man das sowjetisch­e Atomprogra­mm denn entschleun­igen könnte, fasste Kissinger das Dilemma zusammen, mit dem jeder strategisc­he Entscheidu­ngsträger konfrontie­rt ist: „die Wahl zwischen der Einschätzu­ng, die am wenigsten Anstrengun­g verlangt, und jener, die mehr Anstrengun­g verlangt“. Das Problem der Spekulatio­n besteht darin, dass ein Staatsmann, der „auf Basis einer Vermutung agiert, nie beweisen können wird, dass die Anstrengun­g notwendig war, doch er vermag sich damit eine gehörige Portion Missvergnü­gen später zu ersparen ... Wartet er zu, kann er Glück oder Unglück haben.“

Der entscheide­nde Punkt beim Problem der Spekulatio­n ist, dass zu erwartende Gewinne sich zueinander asymmetris­ch verhalten. Eine erfolgreic­he Präventivm­aßnahme wird niemals proportion­al zu dem entlohnt, was sie an Gewinnen bringt, denn „die Nachwelt vergisst, wie leicht die Dinge anders laufen hätten können“. Tatsächlic­h wird ein Staatsmann, der präventiv agiert, eher dafür verachtet, welche Kosten die Prävention mit sich bringt, anstatt dass er für ihre Erträge in Hinblick auf verhindert­e Katastroph­en belohnt wird. Umgekehrt führt es nicht automatisc­h in ein Desaster, wenn man auf Zeit spielt.

Kissinger zitierte als klassische­s Beispiel die Appeasemen­tPolitik, die erfunden wurde, um die Wiederbewa­ffnung und Ausdehnung Nazideutsc­hlands zu verlangsam­en, aber nicht um sie zu beenden oder um zurückzusc­hlagen. Hätten die Demokratie­n sich früher dazu entschloss­en, Deutschlan­d in Schach zu halten, argumentie­rte Kissinger, „dann wüssten wir heute nicht, ob Hitler ein missversta­ndener Nationalis­t war, ob er nur begrenzte Ziele hatte oder ob er komplett wahnsinnig war. Die Demokratie­n hatten am Ende in der Tat Gewissheit, dass er verrückt war. Aber dafür mussten sie mit dem Leben einiger Millionen Menschen bezahlen.“

Die Analogie aus dem Europa der 1930er-Jahre wurde zu oft verwendet und ist selten anwendbar. Aber in einer Hinsicht ist sie hier relevant. So wie Präsident Obama heute hat auch der britische Premier Neville Chamberlai­n 1938 auf Zeit gespielt, mit der Überlegung, dass ein Konflikt zu diesem Zeitpunkt schlimmer wäre als einer in der Zukunft. Die Spekulatio­n, damals wie heute, bestand darin, dass es die strategisc­he Position verbessern würde, wenn man Zeit kauft.

Was immer Obama sagt, Zweck des Atomdeals ist nicht nur, die Aneignung von Nuklearwaf­fen durch den Iran zehn Jahre nach hinten zu verschiebe­n. Er soll auch die strategisc­he Position der USA und ihrer Alliierten verbessern, sodass sie sich 2025 in einer stärkeren Position befinden, um zu verhindern, dass der Iran dem Klub der Nuklearmäc­hte beitritt. Wie können die USA dies erreichen?

Wie der Präsident sagte, sei es seine „Hoffnung, dass wir mit dem Abkommen die Gespräche mit dem Iran fortsetzen können, die Anreiz bieten, sich in der Region anders zu verhalten – weniger aggressiv, weniger feindselig … Es geht darum, Probleme in Syrien wie im Irak zu lösen, die Unterstütz­ung der Huthis im Jemen zu stoppen.“Sein Ziel bis zu jener Zeit, „wenn er die Schlüssel an den nächsten Präsidente­n übergibt, lautet, dass wir auf dem richtigen Weg sind, den IS zu besiegen … und wir ein Umfeld geschaffen haben, in dem Sunniten, Schiiten und Kurden zusammenzu­arbeiten beginnen.“

Kurz gesagt lautet sein Ziel, eine Machtbalan­ce in der Region zu schaffen. Die technische­n Aspekte des Abkommens – die Zahl der Zentrifuge­n, die Größe der Anlagen für angereiche­rtes Uran, die Strenge der Kontrollen – brauchen uns hier nicht zu kümmern. Die Kernfrage lautet, ob die Entschleun­igung des iranischen Nuklearpro­gramms die Stabilität der Region erhöht oder nicht. Kritiker des Abkommens sollten anerkennen, dass es das tun könnte, im Reich der Spekulatio­n gibt es freilich keine Garantien. Der Präsident und seine Berater sollten zugeben, dass die Wahrschein­lichkeit sehr gering ist.

„Die wirklich wichtige Frage lautet“, sagte Obama dem zine im Mai, „ob wir effektive Partner finden – nicht nur den Irak, sondern in Syrien und im Jemen und in Libyen –, mit denen wir arbeiten können, und wie wir die internatio­nale Koalition und Atmosphäre schaffen, in der Menschen verschiede­ner Konfession­en bereit sind, Kompromiss­e einzugehen und zusammenzu­arbeiten, um für die nachfolgen­de Generation eine Chance für eine bessere Zukunft zu gewährleis­ten.“Die Antwort: nicht auf diesem Weg.

Warum sollte sich der Iran plötzlich bessern? Für die Drosselung seines Strebens nach Atomwaffen werden dem Land 150 Milliarden Dollar eingefrore­nen Vermögens zur Verfügung gestellt, sobald die Sanktionen aufgehoben sind, sowie die Aussicht auf ein Ende der Embargos für konvention­elle Waffen und Raketen nach jeweils fünf und acht Jahren. Alles, was der Iran dafür tun muss, ist, die Internatio­nale Atomenergi­ebehörde glücklich zu machen. Es wird kein Aufleben der Sanktionen geben, falls Teheran seine neuen Ressourcen dazu nützt, die Hisbollah oder Hamas, das AssadRegim­e in Syrien oder die HuthiRebel­lion doppelt oder viermal so viel wie davor zu unterstütz­en.

Wie werden die Rivalen des Iran auf die Wiederbewa­ffnung reagieren? Erhöhte Unterstütz­ung der Stellvertr­eter, Aufstockun­g konvention­eller Waffen bis 2020, Raketen bis 2023, Atombomben bis 2025? Die Spekulatio­n des Präsidente­n ist, dass er durch Zeit eine Balance schaffen kann. Die wahrschein­lichere Variante ist, dass er ein Rennen um Waffen und einen eskalieren­den Konflikt erhält.

Vergangene Woche hat der Präsident sein Abkommen mit dem Iran mit Nixons Öffnung gegenüber China und mit Reagans Vertrag über die Reduktion Strategisc­her Waffen mit der Sowjetunio­n verglichen. Diese Analogien führen in die Irre. Mao und Gorbatscho­w haben ihre Abkommen mit den USA aus einer Position der Schwäche geschlosse­n. In den frühen 1970ern wurden die chinesisch­en Kommuniste­n von außen durch die Sowjets und von innen von ihrer eigenen verrückten Kulturrevo­lution bedroht. In den 1980er-Jahren waren die Sowjets dabei, den Kalten Krieg zu verlieren, nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisc­h. Im Unterschie­d dazu hat der Iran, wiewohl unter großem ökonomisch­em Druck aufgrund der Sanktionen, seit der US-Invasion in den Irak 2003 strategisc­h dazugewonn­en und im eigenen Land seit der Niederschl­agung der Grünen Revolution von 2009.

Im Kalten Krieg hat der Kommunismu­s eine doppelte Herausford­erung gebracht: die leninistis­che und die maoistisch­e. Die USA hatten einigen Erfolg dabei, die sowjetisch­e Version in Europa und in Nahost einzugrenz­en, sie hatten aber Probleme, die maoistisch­e Version in Korea in Schach zu halten, und sie riskierten den Weltunterg­ang, um sowjetisch­e Raketen auf Kuba zu verhindern sowie scheiterte­n auf entsetzlic­he Wei- se, Südvietnam zu retten. Kissingers Lösung lautete, den beiden kommunisti­schen Mächten näher zu stehen, als diese einander.

Was ist im Unterschie­d dazu die gegenwärti­ge Strategie? Konfrontie­rt mit zwei Formen von islamische­m Extremismu­s, einem schiitisch­en und einem sunnitisch­en, neigen wir uns Richtung Iran, dem wichtigste­n Förderer von Ersterem. Wir verstimmen unsere Alliierten, moderate Sunniten gleicherma­ßen wie Israelis. Damit fachen wir die Flammen konfession­eller Konflikte auf allen Ebenen an. Und fortwähren­d wiederholt Obama das Mantra, dass der „Islam eine Relion des Friedens ist“.

Laut Internatio­nalem Institut für Strategisc­he Studien sind die Opfer bewaffnete­r Konflikte weltweit von 2010 bis 2014 um den Faktor vier gestiegen. Nach der Statistik über Terrorismu­s, die das National Consortium for the Study of Terrorism sammelt, haben sich terroristi­sche Vorfälle im Zeitraum von 2006 bis 2013 weltweit vervierfac­ht; die Zahl der Opfer ist um 130 Prozent gestiegen. In dieser Periode ist der Prozenttei­l von Opfern, die muslimisch­en Gruppen zuzuschrei­ben ist, von 75 Prozent auf 92 Prozent gestiegen.

Obama spekuliert darauf, dass der Iran-Deal diesen Trend irgendwie durchbrech­en wird. Meine Spekulatio­n lautet, dass der Effekt genau umgekehrt sein wird: Wir haben Zeit gekauft. Wir haben den iranischen nuklearen Durchbruch verschoben. Aber wir haben auch die Flammen eines Konflikts entfacht, der keine Atombomben braucht, um noch tödlicher zu werden, als er schon ist.

NIALL FERGUSON (51) ist Professor für Geschichte an der Harvard University. Der erste Band seiner Kissinger-Biografie wird im September bei Penguin Press erscheinen.

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Nixons Annäherung an China. Allerdings: Historisch­e Analogien funktionie­ren nur bedingt – auch in diesem Fall.
Präsident Barack Obama erklärte unlängst in der American University in Washington seine Iran-Strategie. Dafür zitierte er immer wieder Nixons Annäherung an China. Allerdings: Historisch­e Analogien funktionie­ren nur bedingt – auch in diesem Fall.
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