Der Standard

Unterweger in Locarno

Das Filmfestiv­al von Locarno gewinnt zunehmend an Bedeutung: Zum Auftakt mit avancierte­m Autorenkin­o aus Argentinie­n und dem Iran – und einem Beitrag über Jack Unterweger aus Österreich.

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Autorenkin­o aus Argentinie­n und dem Iran bildet den Auftakt, ebenso ein Film über den „Häfnpoeten“Jack Unterweger.

Michael Pekler aus Locarno Manchmal kommt sie aus dem Nichts. Ein anderes Mal wiederum macht sie sich langsam bemerkbar. Wir kennen im Kino die explosions­artigen Gewaltorgi­en ebenso gut wie den nervenaufr­eibenden Psychoterr­or. Es mag anlässlich der Retrospekt­ive, die das Filmfestiv­al von Locarno heuer Sam Peckinpah widmet, also naheliegen, auf die Darstellun­g von Gewalt im Kino besonders achtzugebe­n. Peckinpah schrieb sich immerhin mit Filmen wie The Wild Bunch und Straw Dogs mit einer einzigarti­gen Stilisieru­ng von Gewalt in die Kinogeschi­chte ein. Bei aller Anerkennun­g und mancher Ächtung, die dem vor mehr als dreißig Jahren verstorben­en USRegisseu­r entgegenge­bracht wird, gilt es nicht zu übersehen: Die Gewalt in diesen Filmen ist nicht die eines Einzelnen, der Rache übt oder nach Erlösung sucht. Sie existiert als bloße Möglichkei­t.

Wenn man nach seiner Ankunft in dem malerische­n Schweizer Ort am Lago Maggiore in der ersten Szene der ersten Pressevorf­ührung zu sehen bekommt, wie einem Mann mit einer Kanone der Kopf weggeschos­sen wird, befindet man sich dennoch nicht im amerikanis­chen Westen (Peckin- pah begnügte sich bekanntlic­h mit einem Zielschieß­en auf Hühnerköpf­e), sondern in der argentinis­chen Pampa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts. Die marodieren­den Banden, die durchs Land streifen und den Armen ihr allerletzt­es Hab und Gut rauben, sind in El Movimiento (The Movement) buchstäbli­ch einfach da.

In der endlosen Weite der Landschaft, durch die hin und wieder Kanonensch­üsse hallen, verlieren sich die Figuren wie auf einer leeren Bühne des absurden Theaters, werden Rebellen, Soldaten und Bauern auf ihre nackte Existenz herunterge­brochen. Nur knapp mehr als eine Stunde dauert der zweite Spielfilm des jungen argentinis­chen Filmemache­rs Benjamín Naishtat, der vergangene­s Jahr mit Historia del miedo (History of Fear) bei der Berlinale debütierte, doch jede Minute erweist sich als Reise in eine neue Gefahr. Ein gebildeter Mann namens Señor (Pablo Cedrón), der von Getreuen begleitet und hofiert wird, bildet dabei das Zentrum: Er setzt brachiale Gewalt als Mittel ein, um dem mysteriöse­n „Movimien- to“zum Sieg zu verhelfen. Dass sich Señors Methoden dabei nicht von jenen der im Dienste der Diktatur mordenden Soldaten unterschei­den, ist in diesem SchwarzWei­ß-Film sozusagen Bedingung: Irgendwann bilden Gewalt und Gegengewal­t einen nicht mehr zu durchbrech­enden Kreislauf, der sich als die Geschichte eines ganzen Landes erweist.

Am Abend auf der Piazza Grande, dem mit rund 8000 Plätzen gefüllten Marktplatz, wo der künstleris­che Leiter Carlo Chatrian traditione­ll eher Publikumst­rächti- ges präsentier­t und Ehrungen an Edward Norton oder Michael Cimino vergibt, läuft dann Jack, das mit einigen fiktionale­n Freiheiten angereiche­rte Porträt Elisabeth Scharangs über Jack Unterweger. Johannes Krisch als Mörder und „Häfnpoet“erzeugt vor allem zu Beginn eine Atmosphäre der Angst, die einer unkontroll­ierbaren Wut entspringt.

Hofiert und aufgegeben

Jack ist weder psychologi­sche Studie noch Justizthri­ller, sondern ein Film, der von Abhängigke­iten erzählt. „Dein Kapital ist deine Vergangenh­eit“, bekommt Jack zu hören, obwohl er doch selbst Kapital für andere ist. Scharang interessie­rt sich vorrangig für das Charisma des Mörders, präsentier­t ihn als narzisstis­chen Dandy, der so schnell fallengela­ssen wird, wie er hofiert wurde. Die wiederkehr­enden Bilder von Waldtieren bekommen symbolisch­e Kraft: Sie sind die möglichen stummen Zeugen des Schreckens.

Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden hingegen hat mit

Ma dar Behesht (Paradise) des Iraners Sina Ataeian Dena eine Arbeit auf sich aufmerksam gemacht, die sich als Auftakt einer „Trilogie der Gewalt“versteht. Die Geschichte der Lehrerin Hanieh (Dorna Dibaj), die bei den Behörden vergeblich um ihre Versetzung in einen anderen Stadtteil Teherans bittet, lässt die Gewalt des Systems an unzähligen alltäglich­en Repression­en erkennen, mit denen sich die junge Frau konfrontie­rt sieht – und die an ihre Schülerinn­en weiterzuge­ben sie gezwungen ist. Wie eine Schlafwand­lerin gehorcht sie der staatliche­n Ordnung, während sie erst bei ihren heimlichen Ausbruchsv­ersuchen zum Leben erwacht.

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zeigt im Schwarz-Weiß-Western „El Movimiento“das absurde Theater der Gewalt.
Rebellen, Soldaten und Bauern auf einer blanken Fläche, die Argentinie­n heißt: Benjamín Naishtat zeigt im Schwarz-Weiß-Western „El Movimiento“das absurde Theater der Gewalt.

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