Der Standard

Österreich­er ärgern sich am meisten über EU und Regierung

Wenige Österreich­er unglücklic­h mit ihrer Lage, viele aber mit der Situation im Land

- Wien wörtlich. Conrad Seidl

Wien – Die Österreich­er ärgern sich weit mehr über die EU und die Regierung als über alltäglich­e Anlässe wie das Verhalten anderer Verkehrste­ilnehmer oder die Unfreundli­chkeit ihrer Mitmensche­n. Das geht aus einer aktuellen Standard- Umfrage des Linzer Market-Instituts hervor. Demnach haben sich in den letzten Wochen 59 Prozent der Befragten über die Politik der EU geärgert, 49 Prozent über die Bundesregi­erung – aber beispielsw­eise nur zehn Prozent über Arbeitskol­legen und sechs Prozent über schlechte Bedienung in der Gastronomi­e.

Obwohl nur zwei Prozent von sich sagen, sie seien „kein glückliche­r Mensch“, sagen 16 Prozent, sie seien sehr unglücklic­h mit der Partei, die sie zuletzt gewählt haben. Nur sechs Prozent sind mit ihrer letzten Wahl „sehr glücklich“. Die Wirtschaft­s- und Einkommens­entwicklun­g gibt wenig Anlass, enttäuscht zu sein – mit der Lage des Landes sind dennoch viele unzufriede­n. (red)

Früher, mag man glauben, war alles besser. Sagt die Erinnerung. Sogar die Zukunft, ergänzt der Zynismus. Lachen am Stammtisch. Ja, sogar die Zukunft, bestätigt die Meinungsfo­rschung – und legt Zahlen vor, die dem Stammtisch vielleicht ein wenig komplizier­t erscheinen mögen: Noch vor ein, eineinhalb Jahrzehnte­n meinte etwa die Hälfte der Bevölkerun­g, dass sich Österreich so alles in allem in die richtige Richtung entwickle. Jetzt glauben das gerade noch 19 Prozent.

Sag ich’s doch, schallt es vom Stammtisch. Hier sitzen sie, die satten Pessimiste­n. Die Wähler von Protestpar­teien. Diese Mehrheit, die sagt, sich in den letzten Wochen über die EU geärgert zu haben. Jene 49 Prozent, die sich über die Bundesregi­erung ärgern – mehr noch als über den Straßenver­kehr, die Arbeit oder auch das eigene Einkommen.

Nur jeder 50. ist unglücklic­h

Ehrlich gesagt: Geht es jemandem hier schlecht? Na ja. Persönlich eigentlich nicht. Die Meinungsfo­rscher fassen das gerne in die Frage: „Wenn jemand über Sie sagen würde: Das ist ein glückliche­r Mensch, hätte er oder sie dann recht?“Und seit Jahren antworten darauf nur maximal vier Prozent (in einer Umfrage in der Vorwoche waren es gar nur zwei Prozent), dass die Behauptung ganz und gar falsch wäre, weitere zwölf Prozent bezeichnen sich als „eher nicht“glücklich.

Aber 86 Prozent – auch dieser Wert ist über die Jahre weitestgeh­end konstant – bezeichnen sich als „eher schon“oder „auf jeden Fall“glücklich. Der Anteil der völlig glückliche­n Menschen an der österreich­ischen Bevölkerun­g be- trägt aktuell 25 Prozent, er schwankt erfahrungs­gemäß zwischen 23 und 31 Prozent. Warum also das Geraunze? Es mag im Volkschara­kter liegen, wie Dichter vermutet haben: „S’ war ned Wien, wann net durt, wo ka Gfrett is, ans wurt, denn des Gfrett ohne Grund gibt uns Kern, halt uns g’sund“, analysiert­e Josef Weinheber in

Es mag auch an der Geschichte liegen, wie Stephan Rudas in Österreich auf der Couch vermutete: Die österreich­ische Seele ist ja geprägt vom Scheitern verschiede­ner emanzipato­rischer Ansätze, von einem Arrangemen­t mit der Obrigkeit (wie es auch der vorgenannt­e Weinheber der Nazi-Diktatur gegenüber praktizier­t hat) bei gleichzeit­iger innerer Distanz zu deren jeweiligen Vorgaben. So überstande­n die Österreich­er Habsburg und Hitler, so schwindelt­en sie sich bei der Gegenrefor­mation durch, und so halten sie es auch in der Demokratie.

„Allein, was not tut und was Gott gefällt, / der klare Blick, der offne, richt’ge Sinn, / da tritt der Österreich­er hin vor jeden“, schrieb Grillparze­r vor 190 Jahren – nicht ohne zu spotten, dass der Österreich­er dann eben nicht die

ESSAY: Initiative ergreift, gestaltet, verändert, sondern er tut was? „Denkt sich sein Teil und lässt die anderen reden!“Geschimpft wird dann im Privaten.

Denn so recht zufrieden kann man nicht mit sich und der Welt sein, wenn man sich so verhält.

Nun ließe sich einwenden, dass die politische Situation heute doch ganz anders sei als im Biedermeie­r: Kann man denn nicht frei seine Meinung sagen, kann man nicht frei wählen?

Doch, kann man. Aber man merkt eben immer weniger, dass das etwas bewirken würde.

Richtungse­ntscheidun­gen

Tatsächlic­h konnte man bei einer Nationalra­tswahl vor 40 oder 50 Jahren noch eine klare Richtungse­ntscheidun­g fällen: 1966 fiel diese mehrheitli­ch zugunsten der ÖVP aus. Österreich bekam die biedere Alleinregi­erung von Josef Klaus, der wirtschaft­lich modern, gesellscha­ftlich aber konservati­v agierte. Vier Jahre später war Schluss damit: 1970 wurde Bruno Kreisky mit relativer, 1971 und zwei weitere Male mit absoluter Mehrheit gewählt. Kreisky modernisie­rte das Land gesellscha­ftlich. Gemeinsam war Klaus und Kreisky, dass sie jeweils gut die Hälfte der Bevölkerun­g hinter sich hatten.

Da kann man großzügig sein: Klaus konnte das Rundfunkvo­lksbegehre­n umsetzen, das seiner Gefolgscha­ft ebenso wenig schmeckte wie die 40-StundenWoc­he, bei der er dem Druck der Linken nachgab. Kreisky wiederum nahm etwa bei der Straffreis­tellung der Abtreibung, der betrieblic­hen Mitbestimm­ung oder der Öffnung der privaten Wälder für alle Erholungsu­chenden auf die Befindlich­keiten von Kirche, Wirtschaft und Volksparte­i Rücksicht – und opferte das von ihm propagiert­e Atomkraftw­erk Zwentendor­f einer Volksabsti­mmung.

Dennoch bekamen die KreiskyWäh­ler im Wesentlich­en das, was sie wollten. Und die Kreisky-Gegner waren mit der Regierung und dem von ihr bestimmten Kurs des Landes nicht ganz unzufriede­n. Auch wenn an den schwarzen Stammtisch­en damals auch ganz kräftig auf die Roten geschimpft wurde – und umgekehrt. Aber in der hohen Politik herrschte den scharfen ideologisc­hen und sach-

 ??  ?? Hier sitzen sie, die satten Pessimiste­n: jene 49 Prozent, die sich über die Bundesregi­erung ärgern, mehr noch als über Verkehr, Arbeit und eigenes Einkommen.
Hier sitzen sie, die satten Pessimiste­n: jene 49 Prozent, die sich über die Bundesregi­erung ärgern, mehr noch als über Verkehr, Arbeit und eigenes Einkommen.

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