Zug um Zug in eine neue Dimension Der Kärntner Markus Ragger steht knapp vor dem Eintritt in die Top 50 der Schachweltrangliste. Bis Sonntag spielt er in Wien gegen Großmeister Shakhriyar Mamedyarov. Um zu reüssieren, muss er weit gehen – tief in den Kopf
Markus Ragger sitzt Shakhriyar Mamedyarov gegenüber. Es ist im Wiener Rathaus, es ist vergangener Montag, es ist eine Premiere. Noch nie sind die beiden aufeinandergetroffen. Trotzdem kennt Ragger das Spiel seines Kontrahenten im Detail. Die Auseinandersetzung brach schon Wochen zuvor an. An dem Tag, als der Österreicher sich dem Repertoire seines Rivalen zu widmen begann.
Der Schachspieler der Gegenwart ist gläsern, seine Vergangenheit ein offenes Buch. Hunderte Partien von Mamedyarov sind in Datenbanken abrufbar. Ragger kennt sie alle. Und dies aus gutem Grund. Der 27-Jährige will sich in seinen Widerpart hineinversetzen, dessen Pläne erahnen und durchkreuzen. Insbesondere die Eröffnungen werden wieder und wieder studiert. Immer auf der Suche nach einem probaten Gegenmittel. Klingt vielversprechend, wäre da nicht der Gegner. Und der arbeitet, der denkt nicht anders, nur mit noch größerem Erfolg. Bis auf Position vier der Weltrangliste hatte sich der 30-jährige Aserbaidschaner bereits emporgearbeitet, aktuell steht er auf dem 22. Rang. „Er ist der bessere Spieler“, stellt Ragger mit dem am Brett gebotenen Realismus fest.
Es sollte sich zunächst bewahrheiten. Ragger verliert zwei Partien mit Schwarz und bietet mit Weiß ein Remis an. Mamedyarov nimmt dankend an. Der Aserbaidschaner, so hört man, sah sich in der Position des Verlierers. Bis Sonntag folgen drei weitere Spiele. Ragger bleibt optimistisch.
Das Selbstvertrauen kommt nicht von ungefähr, der Kärntner hat sich in der Schachszene einen Namen gemacht. Er ist die Nummer 54 der Weltrangliste und kurz davor, die magische Grenze von 2700 Elo-Punkten zu knacken. SuperGroßmeister würde man ihn dann nennen, zumindest inoffiziell. Der Begriff wurde von Medien eingeführt, um auf die Zugehörigkeit eines Spielers zur engeren Weltspitze hinzuweisen. Für den heimischen Schachsport ist es der Eintritt in eine neue Dimension, seit der Einführung des Wertungssystems in den 1970ern stieß noch kein Österreicher in die Top 100 vor.
Computer als Partner
Wohin die Reise führen kann, ist nicht absehbar. „Ich kann nur an meinen Stärken und Schwächen arbeiten. Die Motivation ist jedenfalls da.“Und die braucht es auch. Der Alltag eines Schachprofis wird vom Training bestimmt. Sechs bis acht Stunden täglich, mitunter sind es auch zwölf. Als Übungspartner dient in erster Linie der Computer. Die Rechner
PORTRÄT: sind mittlerweile unverzichtbar und haben doch ihre Grenzen. „Über eine gesamte Partie ist der Computer überlegen, er macht keinen gröberen Fehler. Bei der Stellungseinschätzung ist ein Großmeister aber im Vorteil.“In diesem Sinne werden Positionen bevorzugt mit Kollegen besprochen. Per Videotelefonie, man hat ja nicht immer einen Weltklassespieler zur Seite.
Wer im Schachsport bestehen will, muss variieren. Wehe dem, der seine Strategie zu repetitiv anlegt. „Wenn ich eine gute Partie mache, hat sie jeder meiner zukünftigen Gegner gesehen. Ich muss mir also überlegen, wie ich die nächste anlege.“Ragger hat das Katz-und-Maus-Spiel früh erlernt, und zwar auf Omas Schoß. „Meine Großeltern saßen täglich am Brett.“Mit sechs zog es den kleinen Blondschopf in den Schachverein von Maria Saal, drei Jahre später setzte er allmählich die Familie matt. Das Hobby wurde zum Beruf, mittlerweile ist Ragger in aller Herren Länder als Profi unterwegs. Zuletzt ging er beim Politiken-Cup in Kopenhagen als Gewinner hervor, der Siegerscheck belief sich auf 2600 Euro. „Ich werde nicht reich, aber ich kann davon leben.“Nachsatz: „Wegen des Geldes würde ich es nicht tun.“
Die Schachwelt kennt aber auch Topverdiener, Weltmeister Magnus Carlsen ist einer von ihnen. Der Norweger ist die alles überragende Persönlichkeit, ein Popstar. Zweimal hatte Ragger das Vergnügen, jeweils verlor er. Zuletzt bei der Weltmeisterschaft 2014 im Blitzschach. Ragger kann dieser Variante mit verkürzter Bedenkzeit einiges abgewinnen: „Die Turniere sind anstrengend, wecken aber starke Emotionen.“Zum Beispiel Glücksgefühle, just vor der Niederlage gegen Carlsen bezwang Ragger den indischen ExWeltmeister Viswanathan Anand. „Gegen solche Spieler anzutreten ist eine unbezahlbare Erfahrung.“Ob Ragger je die Möglichkeit bekommen wird, den stärksten Spie- ler der Welt, also den Weltmeister im klassischen Schach, herauszufordern? Unter den derzeitigen Umständen kaum. Um in die Position des Herausforderers zu kommen, muss man sich durch mehrere Turniere spielen, Sieg um Sieg einfahren. Der Weltmeister sitzt derweil auf seinem Thron und wartet. Umso erstaunlicher, dass just Carlsen bereit ist, dieses Privileg abzugeben. Er fordert den Weltverband auf, die Regularien für die Weltmeisterschaft zu überdenken und plädiert für ein Turnier im K.-o.-System. „Aus sportlicher Sicht würde ich es gutheißen“, sagt Ragger. Es gäbe dann eine realistische Chance, um den Titel mitzuspielen. Als Fan bevorzugt er jedoch die zugespitzte Begegnung zweier Konkurrenten.
Spiel in den Köpfen
Das letzte WM-Duell zwischen Carlsen und Anand brachte Ragger den Interessierten per Videoanalyse näher. „Eine einzelne Partie dauert fünf Stunden. Und das meiste spielt sich in den Köpfen der Kontrahenten ab. Ich möchte auch Hobbyspielern die Vorgänge erläutern“, sagt Ragger – und zitiert an dieser Stelle ein altes Sprichwort: „Das Schachspiel ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann.“Wie bitte, Herr Ragger? „Man lernt es schnell, wird es aber nie ganz ergründen.“pFeature auf