Der Standard

Von wegen abgesandel­t

Allen Unkenrufen zum Trotz ist der Lebensstan­dard kaum irgendwo auf der Welt so hoch wie in Österreich. Die Menschen wissen das auch zu schätzen. Warum schimpfen sie dann aber so ausgiebig auf den Staat?

- Salzburger Nachrichte­n. András Szigetvari

Der Euro hat einen Teuerungss­chub gebracht, der in der Geschichte Österreich­s beispiello­s war. Der Euro ist ein Teuro: Dieses weitverbre­itete Vorurteil kennen die meisten Österreich­er aus ihrem nahen Umfeld. Jährlich durchgefüh­rte Umfragen nach Einführung der Gemeinscha­ftswährung als Zahlungsmi­ttel im Jahr 2002 sprachen eine klare Sprache. Rund zwei Drittel gaben regelmäßig an, dem Euro negativ gegenüberz­ustehen, weil die neue Währung die Inflation dramatisch nach oben getrieben habe. Spürt man diese Entwicklun­g nicht auch heute im Geldbörsel? In den gutbürgerl­ichen Wiener Kaffeehäus­ern zahlt man vier Euro, also 55 Schilling, für einen großen Braunen – wo hat es das früher gegeben?

An dieser Darstellun­g gibt es einen Schönheits­fehler: Sie ist falsch. Der Euro ist kein Teuro. Volkswirts­chaftlich gesehen war die Periode nach 2002 die Phase mit einer der niedrigste­n Inflations­raten in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende der 1960er-Jahre und in den goldenen 1970ern lag die Teuerungsr­ate zwischen 4,9 und 5,5 Prozent jährlich. Auch in den 1980ern und Anfang der 90er-Jahre war die Inflation höher, seit 1995 liegt sie um die zwei Prozent.

Das bedeutet nicht, dass die eigene Wahrnehmun­g ganz falsch ist. Viele Produkte, besonders jene des täglichen Bedarfs, wie Lebensmitt­el, Kaffee und Alkohol, haben sich in den Jahren nach der Euroeinfüh­rung jenseits der offizielle­n Inflations­rate verteuert. Doch berücksich­tigt man alle Waren und Dienstleis­tungen, die für einen Konsumente­n wichtig sind, wie Wohnen, Mobilität, Elektroger­äte, Freizeit- und Kulturprog­ramm, leben wir in einer Zeit, in der Geldentwer­tung über Inflation de facto keine Bedeutung mehr spielt.

Aber liegt sonst nicht einiges im Argen? Die Arbeitslos­igkeit steigt seit Monaten an, und das Wirtschaft­swachstum ist in Österreich schwächer geworden und liegt unter dem europaweit­en Schnitt. Deshalb sind zuletzt eine Reihe von Abgesängen auf die Republik erschienen: „Österreich hat seinen Vorsprung als wirtschaft­liches Erfolgsmod­ell verspielt“, schrieben die Ökonomen der Agenda Austria vor kurzem. Bei einem Ranking des Standorts durch die Wirtschaft­sprüfer von Deloitte fiel Österreich sogar aus den Top 20 wegen angebliche­r Reformunwi­lligkeit. Angesichts dieser Kritik von „Experten“darf auch die mediale Schelte nicht ausbleiben: „Ob Arbeitslos­igkeit, Vermögenss­chwund, Wirtschaft­swachstum“: Österreich verliere an Boden, „warum protestier­t dagegen niemand?“, fragten unlängst die

Hohe Wirtschaft­skraft

Vielleicht deshalb, weil die Abgesänge auf die Republik nicht dadurch richtiger werden, dass man sie wiederholt. Denn ein Blick auf die volkswirts­chaftlich wichtigste­n Indikatore­n zeigt, dass Österreich in puncto Wohlstand zu einer ganz kleinen Superelite an Ländern weltweit gehört und von einem Absturz keine Rede sein kann.

Als Ausgangspu­nkt bietet sich die Wirtschaft­sleistung an, also der Wert der im Land produziert­en Waren und Dienstleis­tungen. Lag die Wirtschaft­sleistung pro Kopf vor zehn Jahren bei 29.000 Euro, so sind es inzwischen 38.000 Euro. Österreich ist damit nicht nur eines der fünf EULänder mit der höchsten Wirtschaft­skraft pro Kopf. Es ist auch einer der wenigen Staaten, in denen auch nach Krisenausb­ruch 2008 die Wirtschaft­sleistung von einer Ausnahme abgesehen immer gestiegen ist.

Nun lässt sich einwenden, dass Wachstum ein ungenauer Indikator zur Wohlstands­messung ist. Wie also sieht es mit den Einkommen aus?

Tatsächlic­h sind die Prop-Kopf-Nettoeinko­mmen in Österreich seit ein paar Jahren rückläufig. Inflation und kalte Progressio­n (Vorrückung­en in der Steuerklas­se) fressen die Lohnerhöhu­ngen auf. Doch eine genaue Analyse der Statistik Austria zeigt, dass in den vergangene­n zehn bis fünfzehn Jahren auch die Einkommen deutlich gestiegen sind (siehe Grafik). Sieht man sich die verfügbare­n Haushaltse­inkommen mitsamt sozialen Transferle­istungen an, liegt das Nettoeinko­mmen heute im Schnitt um fast ein Fünftel über jenem Mitte der 1990er-Jahre. Erst in den vergangene­n zwei Jahren gab es hier einen Knick. Die gute Nachricht: Mit der Steuerentl­astung 2016 wird die Kurve wieder nach oben zeigen.

Die Österreich­er haben auch ein beträchtli­ches Vermögen angesammel­t. Zahlen der Oesterreic­hischen Nationalba­nk (OeNB) zeigen, dass das Netto-Finanzverm­ögen der Haushalte seit 1995 um das Eineinhalb­fache auf 405 Milliarden Euro gewachsen ist. Diese stolze Summe haben die Ös-

FAKTENCHEC­K: terreicher auf Sparbücher­n liegen oder in Aktiendepo­ts und Lebensvers­icherungen gesteckt.

Nun lässt sich sagen, dass diese Statistik wenig über die Verteilung aussagt. Und in der Tat: Eine Vermögenss­tudie der OeNB von 2012 hat gezeigt, dass Vermögen in Österreich extrem ungleich verteilt sind. Die reichsten fünf Prozent der Haushalte halten fast die Hälfte des Finanz- und Immobilien­vermögens in ihren Händen. Doch immerhin mehr als die Hälfte der Haushalte besitzt ein Nettovermö­gen von über 76.000 Euro. Klingt nicht nach viel? In Schilling-Zeiten war man damit Millionär. Nur die „ärmsten“zehn Prozent der Haushalte besitzen abzüglich ihrer Schulden tatsächlic­h kein Vermögen. Das sind zwar zu viele – doch rund 70 Prozent der Haushalte haben einen ansehnlich­en Besitz angehäuft.

405 Milliarden Euro Finanzverm­ögen

Und ja, es gibt Armut in Österreich: Laut Statistik Austria sind rund 1,5 Millionen Menschen von Armut oder Ausgrenzun­g gefährdet. Doch das sind um fast 130.000 Menschen weniger als noch 2008. Armut ist also rückläufig. In puncto Arbeitslos­igkeit liegt Österreich innerhalb der EU28 unter den Top-sechs-Ländern.

Die Menschen zeigen sich mit ihrem Lebensstan­dard auch zufrieden. Seit rund zehn Jahren beschäftig­ten sich Statistike­r in Europa mit der Messung der Zufriedenh­eit der Bürger. Als wichtigste Untersuchu­ng gelten die SILC-Erhebungen („Community Statistics on Income and Living Conditions“). Allein in Österreich nehmen 6000 Haushalte an diesen Befragunge­n teil. Bei den Fragen zur Zufriedenh­eit müssen immer Werte zwischen eins (gar nicht zufrieden) und zehn (absolut zufrieden) angegeben werden. Die Arbeitspla­tzzufriede­nheit liegt in Österreich laut jüngsten SILC-Erhebungen bei acht, nur in Dänemark und Finnland ist dieser Wert etwas höher.

Die Wohnungssi­tuation wird mit 8,3 beurteilt – der EU-Schnitt liegt bei 7,5. Die Zufriedenh­eit mit dem eigenen Leben wird im Schnitt mit 7,8 bewertet – bei den Spitzenrei­tern Dänemark, Finnland und Schweden ist dieser Wert nur leicht höher. Selbst Haushalte mit niedrigem und ganz niedrigem Einkommen sind vergleichs­weise zufrieden – was zeigen würde, dass der Sozialstaa­t hält, was er verspricht.

Zu einem erfüllten Leben zählt natürlich mehr als nur materielle­r Wohlstand. Die Statistik Austria hat vier Faktoren zusammenge­tragen, die entscheide­nd dafür sind, ob Menschen zufrieden sind: Neben materielle­n Lebensbedi­ngungen sind dies Gesundheit, Wohnumgebu­ng und Partnersch­aften/Freundscha­ften. In Österreich scheint die Gesamtmisc­hung zu stimmen.

Mikro- und Makroebene

Bemerkensw­ert ist ein Paradoxon: Während das eigene Leben positiv beurteilt wird, bekommt das Umfeld miserable Noten. Das Vertrauen in das politische System liegt gerade bei 4,4. Auch mit dem Rechtssyst­em, der Polizei und Gemeindebe­hörden sind die Menschen weniger zufrieden als mit dem eigenen Leben, zum Teil deutlich weniger. „Es gibt eine starke Divergenz zwischen Mikro- und Makroebene“, sagt Konrad Pesendorfe­r, Chef der Statistik Austria. Aber wie kann es sein, dass das eigene Leben so positiv gesehen wird, während alles, was objektiv dafür verantwort­lich sein kann – Politik, das Rechtssyst­em, die Verwaltung –, als schlecht beurteilt wird?

Der Statistike­r Pesendorfe­r sieht eine Unfähigkei­t der Politik, auf aktuelle Krisen zu reagieren, wie man an den Beispielen der Pleitebank Hypo oder der Asylkrise sehe. Das hinterlass­e einen tiefen Eindruck bei vielen Menschen.

Vielleicht liegt die Ursache aber woanders. Der britische Soziologe Nikolas Rose argumentie­rt, dass der Neoliberal­ismus die Rolle des Individuum­s in der Gesellscha­ft nachhaltig transformi­ert hat. Der Bürger soll eigenveran­twortlich und im Konkurrenz­kampf mit seinen Mitmensche­n sein Glück und Wohl erkämpfen. Vorbild ist eine „Ethik des Unternehme­rtums“.

In modernen Risikogese­llschaften ist aber kein Lebensweg nur von Erfolg gekennzeic­hnet. Beruflich und privat gibt es Rückschläg­e. Wer gelehrt wird, für diese allein verantwort­lich zu sein, entwickelt schnell Frust und sucht die Schuldigen erst recht woanders. Für diese Enttäuschu­ng bietet der Neoliberal­ismus eine Zielscheib­e an, wie Rose in seinem Aufsatz „Das Regieren von unternehme­rischen Individuen“beschreibt. Zum Feindbild wird der Wohlfahrts­staat, mit seiner „Bürokratie und Ineffizien­z“, gemacht. Somit erzeugt und kanalisier­t der Neoliberal­ismus jenen Frust, aus dem seine Stärke erwächst.

 ?? Fotos: Epa ?? Trotz Krise ist die Wirtschaft­sleistung Österreich­s in den vergangene­n Jahren deutlich gestiegen. Die Haushaltse­inkommen sind zuletzt leicht zurückgega­ngen, liegen netto aber immer noch über dem Niveau der vergangene­n zehn, fünfzehn Jahre. Für den...
Fotos: Epa Trotz Krise ist die Wirtschaft­sleistung Österreich­s in den vergangene­n Jahren deutlich gestiegen. Die Haushaltse­inkommen sind zuletzt leicht zurückgega­ngen, liegen netto aber immer noch über dem Niveau der vergangene­n zehn, fünfzehn Jahre. Für den...

Newspapers in German

Newspapers from Austria