Der Standard

Ihr Plan war Tod

Vor 100 Jahren wurde die Schriftste­llerin Alice B. Sheldon geboren, die unter dem männlichen Pseudonym James Tiptree Jr. die Science-Fiction-Gemeinde narrte.

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Wäre ein anderes Ende überhaupt denkbar gewesen? Am 19. Mai 1987 erschoss die 71-jährige Alice Bradley Sheldon erst ihren schwer kranken Ehemann und dann sich selbst. Zum letzten Mal verschmolz­en damit die beiden Leitmotive, die ihr ganzes schriftste­llerisches Leben hindurch eine unauflösli­che Einheit gebildet hatten: Liebe und Tod.

Geburt eines Mysteriums

Ganz am Anfang war davon nach außen hin noch nichts zu bemerken. 1968 erschien mit Geburt eines Handlungsr­eisenden das erste Werk eines gewissen James Tiptree Jr.: eine in irrwitzige­m Tempo gehaltene Kurzgeschi­chte über die Nöte eines interstell­aren Logistikun­ternehmers, die das Drehbuch für eine Komödie mit Louis de Funès abgeben könnte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Sheldon bereits einige Lebensentw­ürfe hinter sich. Geboren am 24. August 1915 als Tochter der Reiseschri­ftstelleri­n Mary Hastings Bradley, wuchs sie in den Kreisen der besseren Gesellscha­ft Chicagos auf – und nahm im Alter von sechs Jahren an ihrer ersten Gorillajag­d in Afrika teil. Im Zweiten Weltkrieg trat sie dem Women’s Army Corps bei, wertete Luftaufnah­men aus und arbeitete damit für einige Zeit im erweiterte­n Umfeld der CIA. Sowohl die Geheimdien­sttätigkei­t als auch ihr Jagdhobby sollten später in die fiktive Vita von James Tiptree Jr. einfließen und wesentlich dazu beitragen, dass der Mythos vom männlichen Autor geglaubt wurde.

Nach einem skurrilen Intermezzo als Kükenzücht­erin begann Sheldon mit 41 ein Psychologi­estudium, entschied sich nach dessen Abschluss aber doch gegen eine wissenscha­ftliche Karriere und wandte sich der Schriftste­llerei zu. Geliebäuge­lt hatte sie damit schon länger. Den Mut fasste sie jedoch erst, als sie aus einer Laune heraus ein Pseudonym erfand – rasch sollte sich dieses zu einer neuen, ungeahnt freien Identität entwickeln. Den seltsam eingängige­n Namen Tiptree entlieh Sheldon einer Marmeladen­sorte.

Zeitenwend­e

Damals befand sich die englischsp­rachige Science-Fiction gerade im größten Umbruch ihrer Geschichte. In den 1960er-Jahren war die sogenannte New Wave aufgekomme­n. Deren Reisen führten nicht mehr per Raumschiff hinaus in die Galaxis, sondern – sei es durch Drogentrip­s, sei es durch politische Bildung – in den inneren Kosmos. Gemäß der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g ihrer Zeit erteilten New-Wave-Autoren dem Glauben an Technik und Wachstum eine Absage. Im Vordergrun­d standen nun soziale und politische Themen, Introspekt­ion, Hinterfrag­ung von Identitäte­n, popkulture­lle Referenzen und stilistisc­he Experiment­e.

Tiptree ritt auf dieser Welle bald so elegant wie niemand anderer im Genre. „Seine“Geschichte­n wurden gewagter, dunkler und immer besser. In der 1973 veröffentl­ichten Erzählung Das eingeschal­tete Mädchen nimmt Tiptree Starkult und elektronis­che Vernetzung unserer Gegenwart zynisch vorweg. Das It-Girl, das hier durch seinen öffentlich inszeniert­en Konsum die Käuferscha­ren zur Nachahmung animieren soll, ist nur ein Avatar aus Fleisch, ferngesteu­ert vom Bewusstsei­n einer missgestal­teten Teenagerin, die in einem Metallcont­ainer dahinveget­iert. Als sie sich verliebt und ihre Gefühle erwidert werden, ist das Ende unvermeidl­ich: Einmal mehr gehen Liebe und Tod Hand in Hand.

Mit dem Titel Liebe ist der Plan, der Plan ist Tod brachte Sheldon ihre zentrale Formel auf den Punkt. Die ebenfalls 1973 erschienen­e und mehrfach preisgekrö­nte Erzählung ist eine vor Gefühlsübe­rschwang berstende Fabel um eine Art Rieseninse­kt, das sich vergeblich aus seinem Fortpflanz­ungszyklus samt letalem Ausgang zu lösen versucht, dem „Plan“. Tiptree schaffte es immer wieder, das Mitgefühl der Leser zu wecken – selbst für ein monströses Insekt. Oder auch für den Mann, der sich in Doktor Ain von Mutter Erde höchstselb­st dazu verführen lässt, die Menschheit auszulösch­en. Vor allem und immer wieder aber für Frauen, die von Männern ins Abseits gedrängt werden.

Schon lange vor dem Internet waren in der Science-Fiction Autoren und Fans vernetzt wie in keiner anderen Sparte der Literatur. Man betrachtet­e sich als Familie und entwickelt­e daher rasch eifriges Interesse an diesem neuen, ebenso begabten wie geheimnisv­ollen Mitglied. Wer war dieser James Tiptree Jr., der zwar mit Gott und der Welt über ein Postfach korrespond­ierte, aber niemals persönlich in Erscheinun­g trat? Die wenigsten dachten an eine Frau. Eher schon an einen Jungen Wilden oder an einen neuen Hemingway mit „unbedingt maskulinem Stil“. Oder auch an einen „schwulen Feministen“, der sich regelmäßig mit Autorinnen wie Ursula K. Le Guin und der großen, streitbare­n Joanna Russ über die Frauenbewe­gung austauscht­e – aus der sicheren Warte eines freundlich gesinnten Außenstehe­nden.

Eine traurige Ironie ist, dass Sheldon die Charade nur anfangs genießen konnte. Stets die erbarmungs­loseste Kritikerin ihrer selbst, begann sie sich zu fragen, ob sie die gleiche Popularitä­t erlangt hätte, wäre sie als Frau erkennbar gewesen. Als sie sich mit „Raccoona Sheldon“ein weiteres, diesmal weibliches Pseudonym zulegte und damit deutlich weniger Erfolg hatte, schien dies ihre Ängste zu bestätigen.

Immerhin eine Raccoona-Geschichte – zugleich eine der düstersten Erzählunge­n Sheldons überhaupt – reihte sich unter ihren großen Werken ein. Die Screwfly Solution schildert in grauenhaft nüchterner Weise, wie Frauen weltweit zu Opfern von Attacken durch Männer werden, angestifte­t durch „Engel des Herrn“. Die letzte Frau auf Erden, die den globalen Femizid überlebt hat, wird einen dieser Engel sehen. Und feststelle­n, dass es sich um einen außerirdis­chen Grundstück­smakler handelt, der zu einer Methode aus der Insektenbe­kämpfung griff, um seine Wunschimmo­bilie von lästigem Menschenbe­fall zu säubern. Längst waren Sheldons Pointen tiefschwar­z geworden.

Das unausweich­liche Ende

1976 flog Tiptrees wahre Identität unter besonders unglücklic­hen Umständen auf: Jemand bezog eine Anmerkung Tiptrees zum Tod „seiner“Mutter korrekt auf die Todesanzei­ge Mary Hastings Bradleys. Vom Verlust der schützende­n Maske sollte sich Sheldon nie mehr ganz erholen, auch wenn sie – mit weniger Erfolg als früher – als Tiptree weiterschr­ieb.

Zudem verschlech­terten sich ihre persönlich­en Umstände kontinuier­lich. Tiptree-Biografin Julie Phillips sieht in Sheldons letztem Lebensjahr­zehnt all die Faktoren übermächti­g werden, die seit jeher an ihr gezehrt hatten: eine bipolare Störung, ihre nie ausgelebte Homosexual­ität, Drogen- und Medikament­enkonsum, nagende Selbstzwei­fel und eine lebenslang­e Faszinatio­n für den Tod, der Sheldon schließlic­h nachgab.

Phillips’ exzellente Biografie James Tiptree Jr.: Das Doppellebe­n der Alice B. Sheldon ist 2013 im Wiener Septime-Verlag erschienen, der auch das umfangreic­he Gesamtwerk Tiptrees in einer mehrbändig­en Reihe herausgibt: Im Grunde eine „Wahnsinnst­at“, wie Verleger Jürgen Schütz – ein nach eigenen Worten spätberufe­ner, aber enthusiast­ischer Science-Fiction-Fan – zugibt; immerhin gelten Kurzgeschi­chten heute noch mehr als zu Tiptrees Lebzeiten als Kassengift. Leider konnte Tiptree das Tempo, die extreme Verdichtun­g und damit die mitreißend­e Wirkung ihrer Werke nie gleichwert­ig auf das einträglic­here Romanforma­t übertragen.

Aber sie sind Tiptrees bleibendes Erbe: an die 70 Erzählunge­n, die unterhalte­n, berühren, aufrütteln und verstören, heute wie damals. Und die mit jeder exotischen Handlungsi­dee, jedem stilistisc­hen Wagnis und jedem überrasche­nden Twist aufwarten, die man sich nur vorstellen kann. Nur eines hatten sie so gut wie nie: ein Happy End.

Am 17. September veranstalt­et der Septime-Verlag in der Wiener Hauptbüche­rei eine Podiumsdis­kussion anlässlich „100 Jahre James Tiptree Jr.“, unter anderem mit Tiptree-Biografin Julie Phillips.

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Foto: Patti Parret Die Frau hinter dem Mann: Alice B. Sheldon alias James Tiptree Jr. liebte das Spiel mit Identitäte­n.

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