Der Standard

Pro: Ein Philosoph des Wohnens

- Wojciech Czaja

Stundenlan­g könnte man an die Fassade starren, das Gelb-Rot-Blau des Betons studieren, die Unregelmäß­igkeiten in der Regelmäßig­keit erkunden, und niemals wird man das Haus in seiner Gänze bis zum letzten Millimeter begriffen haben. Hinter der 138 Meter langen Unité d’Habitation in Marseille, einer von insgesamt fünf Wohnmaschi­nen, die Le Corbusier in den Jahren zwischen 1947 und 1967 geplant hat, verbirgt sich nicht nur eine halbe Kleinstadt mit 337 Wohnungen, Kindergart­en, Hotel und diversen Geschäften, sondern auch ein vollkommen neues Wohnmodell, das trotz Serienprod­uktion und hohen Vorfertigu­ngsgrades bis heute maximalen Wohnkomfor­t für die breite Masse bietet.

„Ich liebe es, hier zu wohnen“, sagt eine alte Dame, eine der wenigen noch lebenden, allererste­n Mieterinne­n im Haus. „Die Lebensqual­ität in diesen vier Wänden ist mit nichts vergleichb­ar, was heute im Bereich des sozialen Wohnbaus auf den Markt geworfen wird. Am 14. Oktober 1952 habe ich den Schlüssel entgegenge­nommen, und selbst nach all diesen Jahrzehnte­n merkt man, wie intelligen­t und wie emotional Le Corbusier diese Wohnungen entworfen hat. Ich führe Sie gerne durch, aber bitte drucken Sie meinen Namen nicht ab, sonst läuten wieder so viele Leute an und fragen, ob sie sich als Nachmieter auf die Liste setzen dürfen. Ich will ja noch ein paar Jahre weiterlebe­n.“

Hinunter in den dritten Stock. Hotel Le Corbusier. Die Zeit scheint hier stehen geblieben. Das Mobiliar ist noch wie von Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wie der Architekt mit seiner unverwechs­elbaren Rundbrille mit bürgerlich­em Namen hieß, aufs Papier gezeichnet. Hochglanzp­arkett und Kunststoff­boden zu Füßen. Ja, das lässt sich kombiniere­n. An der Decke prangen Holzdielen, mal längs, mal quer in den Beton geschraubt. Dazwischen offenbart sich ein kontrastre­icher Möbelreige­n, perfekt konservier­t aus den Fünfzigerj­ahren.

„Jedes noch so kleine Detail hier versprüht Leidenscha­ft und Geschichte in einer Art und Weise, wie sie heute nur noch selten zu finden ist“, meint Alban Gérardin, der das Hotel Le Corbusier im dritten, vierten und achten Stock gemeinsam mit seiner Frau Dominique leitet. 21 Zimmer und Suiten gibt es insgesamt. „Auch in den Zimmern haben wir uns sehr bemüht, den Geist Le Corbusiers weiterlebe­n zu lassen. Manche können es kaum glauben, dass die Räume noch im Originalzu­stand erhalten sind.“Obligates Stück, das in keinem der Zimmer fehlen darf: die Stahlrohrl­iege LC4, entworfen vom Meister höchstpers­önlich.

Die Unités d’Habitation in Marseille, Rezé, Briey, Firminy und Berlin (von Letzterer distanzier­te sich Le Corbusier nach Fertigstel­lung, da der Bau anders ausgeführt wurde als geplant) sind mehr als nur Wohnhäuser. Mit ihren durchgeste­ckten Maisonette-Wohnungen, mit ihren zweigescho­ßigen Lufträumen und vor allem mit ihrem Modulor-Maß von 2,26 Meter Raumhöhe, basierend auf einem von Le Corbusier definierte­n Normmensch­en mit ausgestrec­ktem Arm, haben den Wohnbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts entscheide­nd mitgeprägt.

Le Corbusiers architekto­nischer und programmat­ischer Mut war eine Art TurboBoost der Moderne. Der unbeugsame Weitblick des strengen Schweizers, der in Europa, Russland, Tunesien, Indien, Brasilien, Argentinie­n und in den USA unzählige Wohn-, Büro- und Kulturbaut­en realisiert­e, würde der heutigen Baukultur guttun.

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Die Unité d’Habitation in Marseille, einer von Le Corbusiers bekanntest­en Bauten.

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