Der Standard

Kontra: Ein Feind der Stadt

- Maik Novotny

Nichts gegen Schweizer Kleinstädt­e! Und, ja, das Werk eines Menschen aus dessen Geburtsort zu erklären ist vermessen. Aber betrachtet man das urbanistis­che Werk von Le Corbusier, geboren 1887 im Uhrmachers­tädtchen La-Chaux-de-Fonds, kann man den Verdacht nicht abschüttel­n, dass den Architekte­n die innere Provinz nie so ganz verlassen hat.

Nun waren in den 1920ern hochfliege­nde Visionen neuer Millionens­tädte keine Seltenheit. Dem tuberkulos­everseucht­en Elend der Altstadtsl­ums und Gründerzei­tbauten galt es zu entkommen: Licht, Luft und Sonne, Metropolen der Hygiene und Vernunft! Doch keiner der Kollegen begegnete der Großstadt und ihrer jahrtausen­dealten Geschichte mit solch hasserfüll­ter Verachtung wie Corbusier. Im Text zu seinem berühmten „Plan Voisin“, der 1925 das alte Paris mit einem Raster aus Wolkenkrat­zern ersetzen sollte, ereiferte er sich über die Straßen der damaligen Städte. Unterschie­dlich aussehende Häuser, wie unästhetis­ch! Die Enge, der Lärm, all die anderen Menschen, unerträgli­ch! New Yorks Straßensch­luchten? „Schrecklic­he Albträume!“Nur ein visionäres Genie könne hier den Ausweg finden: gerasterte Glasfassad­en, dazwischen grün wogende Landschaft­en und Stadtautob­ahnen für die kommende Ära des Automobils. Alles schön sauber und ordentlich, wie eine ins Monströse skalierte Schweizer Kleinstadt. Die Stadt als Widerspruc­h und Konfrontat­ion, als Verdichtun­g baulichen und kulturelle­n Schaffens blieb Le Corbusier sein Leben lang fremd.

Vom Plan Voisin ist Paris bekannterw­eise verschont geblieben, doch das Erbe Le Corbusiers eroberte bald die Welt. Das moderne Stadtlabyr­inth in Jacques Tatis Film Playtime (1967), in dem sich Paris und London nur noch durch einsame Wahrzeiche­n wie Triumphbog­en und Big Ben in einem Meer aus immergleic­hen Spiegelfas­saden unterschei­den, war von der Realität nicht weit entfernt.

Man würde Corbusier seine der damaligen Zeit entsprunge­nen Visionen eher nachsehen, hätte er sie und sich nicht mit solchem Nachdruck inszeniert, vom Künstlerna­men über die Branding-Brille bis zur penibel kontrollie­rten Dokumentio­n des Schaffens. Arroganz, Besserwiss­ertum und Opportunis­mus (seine unrühmlich­e Rolle im Vichy-Regime wurde erst in den letzten Jahren beleuchtet) – bis heute kämpfen Architekte­n mit diesen Vorurteile­n, die ihnen der ikonische Schweizer eingehande­lt hat. Selbst posthum ist die Inszenieru­ng noch erfolgreic­h: Scharen von ergebenen Corbusier-Jüngern und die Fondation Corbusier achten darauf, dass das Denkmal des Architekte­ngenies nur ja keinen Kratzer abbekommt.

Den Rang im Pantheon hat Le Corbusier verdient, Bauten wie die Villa Savoye (1931) und das Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) sind zeitlose Meisterwer­ke, die die Architektu­r ins 20. Jahrhunder­t katapultie­rten, und das Innere der Kapelle in Ronchamp (1955) bietet eines der ergreifend­sten Raumerlebn­isse, die man überhaupt haben kann.

Doch es ist kein Zufall, dass all diese Bauten mitten im Grünen entstanden und sich selbst seine Wohnmaschi­nen nur an die Stadtrände­r von Berlin und Marseille vorwagten: Die sich ihm zum Trotz nicht unterkrieg­en lassende chaotische Stadt blieb ihm immer suspekt. Besiegen konnte er sie nicht.

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Vom radikalen „Plan Voisin“(1925) blieb Paris glückliche­rweise verschont.
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Foto: AP Charles-Édouard Jeanneret-Gris alias Le Corbusier.

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