Der schwierige Weg nach Europa
Sie flüchten vor Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern, setzen auf den Schlepperrouten Geld und Leben ein. Drei Reportagen aus den Flüchtlingsbrennpunkten in Ungarn, Mazedonien und auf Kos.
Der Menschenstrom reißt nicht ab. Auf dem Bahndamm nahe dem südungarischen Grenzort Röszke wandern in diesen Tagen täglich tausende Flüchtlinge ein Stück näher ins Innere Europas. Der Schienenstrang verbindet Röszke mit dem serbischen Grenzdorf Horgoš. Vor allem Syrer, aber auch viele Afghanen, Pakistani, Iraker und Afrikaner nutzen ihn, um von Serbien nach Ungarn zu gehen.
Denn dort, wo die Eisenbahn fährt, hat der ungarische Grenzzaun eine Lücke. Der mehr als ein Meter hohe Stacheldraht soll auf Weisung des rechtspopulistischen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán die 175 Kilometer lange Grenze zu Serbien für Flüchtlinge dichtmachen. Die Metallsperre soll am kommenden Montag, dem 31. August, fertiggestellt sein. Faktisch steht sie aber schon über weite Strecken.
Das letzte Hindernis
Früher gingen die Flüchtlinge über die grüne Grenze, wo sie konnten. Der Zaun hält sie nicht ab. Wer schon unter Lebensgefahr im Schlauchboot über die Ägäis gefahren ist, wer den Schlagstock der mazedonischen Polizisten zu spüren bekam, und vor allem, wer tausende Euro oder Dollar in sei- ne Flucht investiert hat, wird hier nicht mehr umkehren. Wer den Gräueln der Kriege in Syrien oder Afghanistan, dem Terror des Islamischen Staats (IS) oder dem Elend anderer Weltecken entkommen ist, wird sich von dem letzten Hindernis auf dem Weg in die europäische Schengen-Zone nicht abschrecken lassen.
„Ich kann bestimmt nicht mehr zurück“, sagt der 24-jährige Grafikdesigner Ahmed aus Damaskus, der mit seiner Gruppe auf der serbischen Seite Rast hält. „Ich bin Atheist“, sagt er – in der intoleranten islamischen Welt eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, für die der Tod droht. „Ich habe die Bücher der Religionen gelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht glauben kann.“Der hagere junge Mann mit den warmen Augen will nach Schweden, um ein neues Leben zu beginnen. Auf dem Bahndamm möchten er und seine Leute nicht mehr weitergehen. „Die Ungarn nehmen unsere Fingerabdrücke. Wir sind dann registriert. Die Länder, in die wir kommen, werden uns deshalb nach Ungarn zurückschicken“, glauben er und viele andere. Sie wissen noch nicht, dass Deutschland die Rückschiebung von Syrern nach Ungarn gemäß Dublin III diese Woche offiziell gestoppt hat. In der Praxis wird sie schon länger nicht mehr praktiziert, und auch andere Zielländer in der EU praktizieren sie nicht.
Dennoch zweigen viele Flüchtlinge aus Angst vor der Registrierung bei Horgoš vom Bahndamm ab und versuchen, sich über den ungarischen Grenzzaun zu schlagen. Manche werfen Decken und Schlafsäcke auf die Stacheldrahtrollen und drücken sie damit nieder. Andere schneiden sich mit Schneidzangen ein Loch in die Sperre oder graben sich unterhalb durch. Man muss aufpassen – die messerscharfen Klingen des sogenannten Nato-Stacheldrahts können tiefe Wunden ins Fleisch reißen. Wer das Hindernis überwunden hat, verschwindet in den Kukuruzfeldern, um den Polizisten zu entkommen, die ständig am Zaun patrouillieren.
Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, unwillkürlicher Teil des „Abenteuers Flucht, halb komisch, halb tragisch“, wie es Ahmed aus Damaskus aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen beschreibt. Manchmal bleiben aber auch Flüchtlinge einfach vor dem Zaun sitzen. Die Sperre verläuft ein paar Meter innerhalb Ungarns. Auch wer davor sitzt, ist bereits in Ungarn. Die Polizisten müssen die Asylsuchenden am Ende abholen und ins Landesinnere bringen.
Daten und Fingerabdrücke
Der Bahndamm zwischen Horgoš und Röszke ist aber derzeit noch der bequemste Weg. Nach ein paar Hundert Metern, wo er die Landstraße nach Röszke kreuzt, hat die ungarische Polizei eine Sammelstelle eingerichtet. Zu Hunderten sitzen die Flüchtlinge im freien Feld neben der Landstraße. Irgendwann kommt ein Bus und bringt 50 von ihnen in das Erstaufnahmelager neben dem Hangar am Autobahngrenzübergang Röszke. Dort werden alle erkennungsdienstlich erfasst, ihre Daten und Fingerabdrücke wandern in den Schengen-Computer.
Die Regierung Orbán fährt seit Monaten eine Hasskampagne gegen Migranten und tut alles, um den Flüchtlingen den Durchzug durch Ungarn schwerzumachen. Die Sprache der Regierungspolitiker und ihrer Medien ist militarisiert. Von „Völkerwanderung“ und „Ansturm“ist die Rede, Terror- und Seuchengefahren werden herbeigeredet. Es geht nicht darum, den ausgezehrten, oft traumatisierten, skrupellosen Schleppern ausgelieferten Flüchtlingen zu helfen, sondern darum, dass „wir unser Land und seine Menschen schützen“.
Die Polizisten in den Fahrzeugen, die aufgegriffene Flüchtlinge transportieren, tragen Mundschutz und Gummihandschuhe, als würden sie menschlichen Unrat entsorgen. Zwei Drittel der Bevölkerung der Bevölkerung sind gegenüber den Flüchtlingen feindselig eingestellt, ergab eine Umfrage, die der Thinktank Republikon erst am Donnerstag veröffentlichte. Die Ablehnung zieht sich quer durch alle rechten und linken Parteien. Am stärksten ist sie unter den Wählern von Orbáns Fidesz (79 Prozent), absurderweise stärker noch als unter den Anhängern der rechtsextremen Jobbik (71 Prozent).
Schon im Erstaufnahmelager Röszke herrscht krasse Überfüllung. Die Prozedur ist langwierig, die mehr als 3000 Asylbewerber leben auf engstem Raum in notdürftig aufgestellten Zelten. Am Mittwoch versammelten sich 200 Syrer und riefen in Richtung Fernsehkameras, die von außerhalb des Lagerzauns auf sie gerichtet waren: „Help us! Help us!“. Ein Polizist feuerte eine Tränengasgranate in die Luft, die Menge ließ sich von den Ordnungshütern vom Zaun wegtreiben.
Neue Grenzjäger-Einheit
Wenige Stunden später taucht Jobbik-Chef Gábor Vona an der Sammelstelle beim Bahndamm auf. Vor den Kameras diverser Fernsehsender kann er sich mit dem Flüchtlingselend im Hintergrund perfekt in Szene setzen. „Das hier ist eine Katastrophe“, tönt er. „Dabei ist das nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Die Regierung ist nicht Herr der Lage.“Die Lösung? „Wir verlangen, dass die Armee an der Grenze eingesetzt wird und jeden einzelnen Flüchtling an Ort und Stelle wieder zurückschickt.“
So treiben sich die Orbán-Partei und die rechtsextreme Jobbik gegenseitig voreinander her. So war es auch nicht Orbán, der den Grenzzaun „erfunden“hat, sondern der Jobbik-Bürgermeister der westlich von Röszke gelegenen Grenzgemeinde Ásotthalom, László Torockai. Der Ultranationalist und Rädelsführer der Unruhen vom Herbst 2006 hatte schon im Jänner die Errichtung eines Walls gefordert, als zehntausende Kosovo-Albaner über Ungarn nach Österreich und Deutschland strömten. Es war freilich der von Orbán gelenkte Staatsapparat, der das „schnell auslegbare Drahthindernis“– wie das Ungetüm im OrbánSprech heißt, mit dem ungarischen Akronym Gyoda – Wirklichkeit hat werden lassen.
Jobbik-Chef Vona kann momentan nur noch hinterherhecheln, wenn inzwischen die Orbán-Fans um acht Prozentpunkte verhetzter sind als seine eigenen Schäfchen. Und dabei ist Orbáns Fantasie noch lange nicht am Ende.
Eine neue „Grenzjäger“-Einheit – eine solche gab es auch schon in der zunehmend verklärt dargestellten Horthy-Zeit – soll im September auf Migrantenpirsch gehen. Nächste Woche soll das Parlament den Armee-Einsatz an der Grenze absegnen und das Strafrecht verschärfen: Illegaler Grenzübertritt und Gyoda-Beschädigung könnten dann mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Die Jobbik wird all dem natürlich zustimmen.