„Glauben Sie, ich hab Freude damit?“
Am Tag vor dem Fund von 71 toten Flüchtlingen auf der Ostautobahn traf Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Schriftsteller Ilija Trojanow zum Gespräch über Asyl, Angst und die Macht als Ministerin. Ich wusste gar nicht, dass das Innenministerium so
STANDARD: Wie ist die Stimmung in diesem Land? Mikl-Leitner: Einerseits große Hilfsbereitschaft, andererseits Sorge und Angst, weil aufgrund der Migrationsströme unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Trojanow: Wir leben seit längerem in einer Angstkultur. Ständig hat irgendjemand vor irgendetwas Angst – vor Terrorismus, Katastrophen, Migranten. Ich wünsche mir von Politikern, dass sie sagen: Solange es diesen grausigen Bürgerkrieg in Syrien gibt, werden Millionen Menschen fliehen, und wir können nicht so tun, als wäre das mal ein kleines Problem zwischendurch – also stellen wir uns der Herausforderung. Mikl-Leitner: Ich schließe mich an, es braucht mehr Ehrlichkeit in der Asyldebatte. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder Europa scheitert an der Flüchtlingsfrage, indem die Nationalisten die Oberhand gewinnen – dann wissen wir, dass es mit einem friedlichen Europa schneller zu Ende sein kann, als manche glauben. Oder Europa schafft diese Herausforderung. Das kann die Politik allein nicht lösen, das trifft jeden Einzelnen.
Standard: Viele Einzelne erzählen, dass sie helfen wollen, das Innenministerium aber blockiert. Mikl-Leitner: Bürokratische Hürden gibt es überall – auch bei der Quartierfrage. Wir scheitern an Baugenehmigungen, an Widmungen. Deswegen braucht es das Durchgriffsrecht.
Standard: Ehrenamtliche Ärzte im Lager Traiskirchen scheitern nicht an Widmungen, sondern am Ministerium. Mikl-Leitner: Ärzte ohne Grenzen war erst kürzlich in Traiskirchen. Und es gibt in Traiskirchen eine medizinische Leiterin, es gibt den Bezirk als Gesundheitsbehörde, da sind wir im Gespräch. Trojanow: Ich war im Mühlviertel, dort gibt es Leute, die ein Haus bereitstellen – und dann gibt es bürokratische Hürden. Das darf nicht sein, oder? Mikl-Leitner: Das kann ich nur unterstreichen. Deswegen sind wir ja in den letzten Monaten angestanden. Ich habe erlebt, wie groß die Hilfsbereitschaft ist, vor allem dort, wo Flüchtlinge leben. Wo wir keine Flüchtlinge haben, ist die Angst am größten.
Standard: Wie kann es sein, dass Kranke im Lager nicht behandelt werden? Mikl-Leitner: Wenn jemand krank wird, wird er selbstverständlich versorgt. Da hätt ich gern die einzelnen Fälle, dann gehen wir dem nach.
Standard: Nachzulesen im Bericht von Amnesty International. Mikl-Leitner: Wir sind mit Amnesty auch in Verbindung und gehen jedem einzelnen Kritikpunkt nach. Und wo es Probleme gibt, wollen wir sie auch lösen. Trojanow: Bei Homer steht: Die Art, wie du einen Flüchtling aufnimmst, unterscheidet die Barba- ren von den Zivilisierten. Wenn wir weiterhin einen Weg der Barbarei einschlagen, nehmen wir als gesamte Gesellschaft einen unglaublichen Schaden.
Standard: Wie erklären Sie einem Flüchtling, der aus einem achtmal so großen und 70-mal so armen Land wie Österreich kommt, dass er im Regen schlafen muss, weil es bei uns halt leider neun Bundesländer und ein paar störrische Landeshauptleute gibt? Mikl-Leitner: Deswegen war ja mein Zugang immer, die Menschen vor Obdachlosigkeit zu schützen. Wir betreuen über 7000 Flüchtlinge in Bundeseinrichtungen, ohne dass wir zuständig sind. Warum stehen Zelte? Weil wir keine andere Möglichkeit haben, weil es viel Widerstand gibt. Trojanow: Auch aus Ihrer Partei. Wie wird dieser Widerstand auf Landesebene begründet? Mikl-Leitner: Das hat mit Parteien wenig zu tun. Ein Beispiel: Gasthäuser oder Hotels. Da werden oft Widmungsfragen vorgeschoben. Bei einer touristischen Widmung darf man keine Flüchtlinge unterbringen. Das ist grotesk. Trojanow: Sie sagen „vorgeschoben“– das heißt, das sind keine ernstzunehmenden, fachlichen Einwände? Oft nicht, ja.
Mikl-Leitner:
INTERVIEW: Innenministerin trifft Schriftsteller
Standard: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wurde für ihre trockene Reaktion beim Kontakt mit einem weinenden palästinensischen Mädchen kritisiert. Was hätten Sie anders gemacht? Mikl-Leitner: Ich möchte Angela Merkels Reaktion nicht kritisieren. Gerade als Politikerin macht einen jedes Schicksal betroffen. Bei mir zu Hause ist das auch Thema Nummer eins. Meine Tochter hat mir ein Plakat gemalt, darauf steht: „Peace für alle – wir wollen keine Asylprobleme mehr“. Trojanow: Was heißt eigentlich, Sie sind betroffen? Politiker benutzen dieses Wort immer. Das macht mich misstrauisch. Mikl-Leitner: Letztens habe ich den Vorwurf bekommen: „Warum sagen Sie nicht, dass Sie betroffen sind?“Wie man es macht, ist es falsch.
Standard: Zu Europas Asylpolitik: Sind Grenzzäune, wie Ungarn sie derzeit baut, ein legitimes Mittel? Mikl-Leitner: Ich stelle mir Europa nicht so vor, dass wir wieder Zäune aufbauen. Es braucht mehr Sicherung der EU-Außengrenzen. Und Anlaufstellen in Italien und Griechenland, wo man klar differenzieren kann zwischen Kriegsflüchtlingen und Auswanderern. Trojanow: Das Wunderbare an diesen Zäunen ist ja: Es funktioniert nie. Selbst so unglaubliche Zäune wie in Melilla und Ceuta werden von den Flüchtlingen überwunden. Das heißt: Solche schwachsinnigen Unterdrückungsmaßnahmen funktionieren Gott sei Dank nicht. Wenn der Druck so groß ist, ist das kein probates Mittel – das werden Sie selbst erkennen.
12. Teil
Standard: Staaten investieren viel in Flüchtlingsabwehr, Asylwerber in Schlepperdienste. Mikl-Leitner: Deswegen wollen wir Anlaufstellen in Herkunftsländern, wo geklärt wird, ob Chance auf Asyl besteht. Ein legaler Weg nach Europa, wo man den Schleppern die Geschäftsgrundlage entziehen kann. Das ist langfristig, aber wichtig. Und wir brauchen Maßnahmen in nordafrikanischen Staaten, um dort die Lebensgrundlage zu verbessern, in Syrien brauchen wir Schutzzonen in Nachbarstaaten. Trojanow: Das ist illusorisch, verzeihen Sie. Die EU hat überhaupt nicht den Einfluss, um so etwas durchzusetzen. Im Libanon, im Jemen haben die Menschen überhaupt keine Versorgung, da ist Traiskirchen gut dagegen. Es ist keine Lösung, zu glauben, wir könnten die Leute daran hindern zu flüchten. Wir müssen uns da- mit abfinden, dass sie zu uns kommen. Und wenn Politiker argumentieren, es gebe ja sichere Herkunftsländer, dann sollten sie auch von eindeutig unsicheren Herkunftsländern sprechen. Was muss groß geprüft werden bei jemandem, der aus Syrien kommt? Mikl-Leitner: Unser Ziel waren immer schnelle Verfahren. Bis vor zwei Monaten hat ein Asylverfahren im Schnitt fünf Monate gedauert. Aber wegen der starken Ströme ist unser System jetzt überlastet, da gebe ich Ihnen recht.
Standard: Was lernt ein Mensch, der in Traiskirchen im Regen schlafen muss, über das politische System Österreichs? Mikl-Leitner: Glauben Sie, ich hab eine Freude damit, dass Menschen im Zelt schlafen müssen? Ich war an vielen Orten, wo Zelte stehen, und das Beeindruckende war: Alle haben sich bedankt, dass sie in Österreich sein dürfen. Sie waren froh, dass sie den Terroristen entkommen sind. Und das Wichtigste neben der Unterkunft ist das Thema Zeit – Zeit schenken, dass man mit ihnen redet, sie Deutsch lehrt, sie informiert über unsere Kultur. Trojanow: Ich habe es ja selbst im Flüchtlingslager erlebt: Das ist eine völlig lähmende Auszeit. Man lernt dort nichts, man ver- Johanna Mikl-Leitner (51) ist seit 2011 österreichische Innenministerin, sie gehört dem ÖVP-Regierungsteam an. Die studierte Wirtschaftspädagogin war von 1999 bis 2003 Nationalratsabgeordnete, dann wechselte sie als Landesrätin für Soziales, Arbeit und Familie in die niederösterreichische Landesregierung. Mikl-Leitner ist zudem seit 2011 geschäftsführende Bundesobfrau des Österreichischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbundes der ÖVP. lernt auch alles. Man ist geparkt als willenloses Opfer in einer nicht beeinflussbaren Bürokratie. Wir waren ein halbes Jahr im Lager, und schon das war schwierig, meine Eltern waren auf dem Weg zur Traumatisierung. Oft dauert es aber länger – zwei, drei Jahre. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Standard: Frau Ministerin, Sie nicken. Sehen Sie das ähnlich? Mikl-Leitner: Ich sehe das genauso, diese Zeit ist schwierig, egal in welcher Betreuungseinrichtung. Jeder wünscht sich ein normales Leben – mit Familie, Arbeit.
Standard: Die Regierung könnte das Arbeitsverbot für Asylwerber sehr schnell rückgängig machen. Mikl-Leitner: Ja, aber ein Asylverfahren müssen wir vorher abwickeln, da sind wir schon rechtsstaatlich unterwegs. Trojanow: Beim Staatsschutzgesetz biegen Sie ja auch den Rechtsstaat hin und her. Also könnten Sie auch hier sagen: Wir können keine kurzen Verfahren garantieren, also ändern wir die Regeln, dass die Leute nicht mehr länger als ein halbes Jahr herumsitzen müssen. Das ist doch machbar. Mikl-Leitner: Wir sind im EU-Vergleich recht liberal, was den Arbeitsmarktzugang betrifft, auch wenn es nur beschränkt ist. Möglichkeiten gibt es. Nur: Man muss sie nützen. Etwa mit gemeinnütziger Arbeit in den Gemeinden. Trojanow: Okay, wir kommen immer zu dem Punkt: die Gemeinden. Ich wusste gar nicht, dass das Innenministerium so machtlos ist. Mikl-Leitner: Die Gemeinden sind der Schlüssel. Wo werden Flüchtlinge untergebracht? Natürlich in einer Gemeinde. Und es machen ja viele Gemeinden was.
Standard: Jetzt soll es ein Manager richten, Christian Konrad. Ein Eingeständnis, dass die Politik weniger Macht hat als die Wirtschaft? Mikl-Leitner: Was waren die Probleme in den letzten Monaten? Permanente Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Da braucht es einen Brückenbauer.
Standard: Warum können Sie nicht diese Brückenbauerin sein? Mikl-Leitner: Das Erste, was es jetzt dazu braucht, ist das Durchgriffsrecht. Jetzt geht es darum, mit diesem Durchgriffsrecht Quartiere zu schaffen. p Video und Langversion auf
derStandard.at Ilija Trojanow (50) ist Schrifteller, Übersetzer und Verleger. Soeben ist sein jüngster Roman Widerstand erschienen, er wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises ausgewählt, der im Oktober in Frankfurt verliehen wird. Seine Eltern flüchteten mit Trojanow aus Bulgarien nach Deutschland, als er sechs Jahre alt war, wenig später führte ein Job des Vaters die Familie nach Kenia. Der studierte Jurist und Ethnologe lebt derzeit in Wien.