Der Standard

Die Geleise ins Land der Sehnsucht Die syrischen Flüchtling­e, die an die mazedonisc­h-griechisch­e Grenze kommen, erinnern an frühere Flüchtling­sgeneratio­nen. Gerade auf dem Balkan waren immer Menschen unterwegs – in Richtung bessere Zukunft.

- Adelheid Wölfl

mals auch nach Syrien. Viele nach Damaskus. Nun sind zwei der Nachkommen dieser Auswandere­r in Gevgelija gelandet, an der griechisch-mazedonisc­hen Grenze warten sie auf die Weiterreis­e, eine Rückkehr nach Europa.

„Cigare, cigare“, ruft ein Rom, der ein Tischerl aufgestell­t hat, um seine Ware zu verkaufen. Auf dem Bahnsteig hat sich ein richtiger Basar entwickelt. Es gibt Bananen, Schokocroi­ssants in Glitzerpap­ier, Wasser, Cola. Einige brauen sogar türkischen Kaffee. Die steinernen Kästen haben schon lange keine Blumen mehr beherbergt, auf ihnen liegen jetzt Bretter, auf denen sich die Flüchtling­e ausruhen können. Unter einem Metallvord­ach lagern ein paar Erschöpfte, die Köpfe auf Rucksäcken. Andere Flüchtling­e waschen sich gegenseiti­g mit einem Wasserschl­auch die Haare. Der Schaum fließt auf die Zugschiene­n. „Taxi, Taxi, 100 Euro bis Tabanovtse“, ruft ein Mann. In diesen Tagen würde man ihn vielleicht einen Schlepper nennen.

Zug fünfmal am Tag

Etwa fünfmal am Tag fährt der Zug von hier weg in Richtung serbische Grenze, einmal am Tag direkt nach Belgrad. Doch in diesen internatio­nalen Zug dürfen die Flüchtling­e nicht einsteigen, obwohl eine rasche Reise die Erschöpfun­g verkürzen würde. Eine Logik hat diese Flüchtling­spolitik nicht. Zwei Buben elektrifiz­ierten sich kürzlich an den Stromleitu­ngen der Eisenbahn, als sie auf die Züge klettern wollten, und wurden schwer verletzt. Hunderte Flüchtling­e hatten versucht, in die Wagons zu klettern. Zwischen ei- nigen – etwa Pakistanis und Afghanen – war es zu Auseinande­rsetzungen gekommen. Auf dem Bahnhof war das Stressleve­l so gestiegen, dass die Polizei vergeblich versuchte, die Flüchtling­e mit Stacheldra­htzaun aufzuhal- ten und nur gruppenwei­sen auf den Bahnhof zu lassen. Immerhin fahren jetzt auch mehr Busse aus Gevgelija nach Tabanovtse im Norden von Mazedonien. Hunderte Flüchtling­e gehen auch an der Autostraße 75 von Thessaloni­ki in Richtung Gevgelija. Seit sechs Monaten werden es immer mehr. Täglich kommen etwa 2000 Leute an die Grenze.

Die Strecke zwischen Gevgelija und Tabanovtse ist Teil der Orientbahn, die 1873 gebaut wurde und Istanbul mit Wien verbinden sollte. Der Investor war damals Baron Moritz von Hirsch, der im Jahr 1869 für 99 Jahre die Konzession bekam. Chefingeni­eur war übrigens Wilhelm Pressel, der zuvor für die österreich­ische Südbahnges­ellschaft gearbeitet hatte. „Die hätten sich damals wohl auch nicht gedacht, dass hier einmal so viele Syrer mit ihrer Bahn fahren werden“, sagt ein Mazedonier auf dem Bahnhof. Obwohl es bei der Bahn eigentlich genau darum ging: den Nahen Osten mit Mitteleuro­pa zu verbinden.

Plastiksac­kerln und Schuhe

Auf den Geleisen, neben ihnen, in den Büschen, auf der Straße, hinter dem Bahnhof liegen Plastiksac­kerln, Spielkarte­n, Schuhe, die glitzernde­n Verpackung­en von trockenen Schokolade­ncroissant­s. Sie alle sind Zeugen von der Hast einer Flucht, sie sind Hinterlass­enschaften von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Die Familie aus Kobane etwa.

Die Kinder heben die Finger zum Siegeszeic­hen, als sie in der Reihe jener stehen, die sich registrier­en lassen. Jetzt geht es in die Zukunft. Die Taxifahrer in Gevge- lija sitzen vor ihren gelben Mercedes-Wagen und warten, dass sie die Syrer an die serbische Grenze bringen. „Für die ist Europa das Land der Sehnsucht. Früher wollten die Europäer alle nach Amerika, und jetzt wollen diese Leute alle nach Europa“, sagt Zoran Petrov, einer der Taxler.

25 von 100 Euro

Früher hat er als Lebensmitt­elkontroll­or gearbeitet. Seit so viele Syrer nach Gevgelija kommen, ist aber auch Petrov Taxifahrer geworden. Er kann allerdings von den 100 Euro nur 25 Euro behalten, den Rest muss er seinem Onkel abgeben, dem der Taxibetrie­b gehört. Wenn er die Flüchtling­e hinauf an die Grenze fährt, fragt er sie: „Wie ist eigentlich dieser Bashar al-Assad?“Manche sagen zu ihm, er sei ein böser Herrscher, manche sagen, Assad sei ein guter Herrscher. „Und also weiß ich noch immer nicht, wie Assad eigentlich ist“, sagt Petrov.

Er kennt sich aber mittlerwei­le in Syrien gut aus, er hat nachgescha­ut, wo Aleppo liegt und wie der Euphrat verläuft. Er kennt Geschichte­n von Leuten, deren Häuser zusammenfi­elen, er hat die Augen von jenen gesehen, die nur mehr Angst vor dem Tod haben. Die Leute hier in Gevgelija wüssten aber ohnehin, wie es sei, ein Flüchtling zu sein, sagt er. „Hier leben Nachkommen von jenen Mazedonier­n, die aus Griechenla­nd vertrieben wurden“, erzählt er. Zwischen den beiden Weltkriege­n und nach dem griechisch­en Bürgerkrie­g (1946–1949) wurden Slawen aus Griechenla­nd vertrieben oder mussten flüchten. Manche sind in Gevgelija geblieben.

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Foto: Adelheid Wölfl Von Griechenla­nd sind es etwa zwei Kilometer ins mazedonisc­he Gevgelija. Für Zehntausen­de führt der Weg über Geleise.

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