Der Standard

Die andere Griechenla­nd-Krise Rund 4000 Flüchtling­e befinden sich derzeit auf der griechisch­en Insel Kos. Das offizielle Griechenla­nd sieht sich nicht in der Lage zu helfen. Einige Privatleut­e packen an. Viele Urlauber und Einheimisc­he schauen aber weg.

- Gudrun Springer

Heels in der Hand, schlurft an den aufs Meer Schauenden vorbei. Die Partynacht war lange. Einige Stunden später wird sich ein Paar aus England hier nicht weiter auf den Kai hinaustrau­en. Weil dort „so viele von ihnen“sitzen.

Kos braucht die Touristen. Das krisengebe­utelte Griechenla­nd ist darauf angewiesen, dass Briten, Deutsche und Holländer trotz der Schlagzeil­en über die Flüchtling­sankünfte auf ihren Inseln die Seele baumeln lassen. An den Stränden außerhalb von Kos-Stadt werden sie gar nichts mitbekomme­n. Aber in dem 19.400-EinwohnerO­rt koexistier­en die Kontraste derzeit gnadenlos nebeneinan­der.

Da laden Ausflugsbo­ote namens Odyssey und Friederike mit polierter Reling zu Badetagen oder Shopping in Bodrum – während die sanfte Brandung an einem Stadtstran­d ein kaputtes Gummiboot und Schwimmwes­ten umspült. Da warten dick gepolstert­e Liegen auf sonnenhung­rige Urlauber, während wenige Meter weiter Menschen auf Pappkarton­s schlafen. Da bittet ein junger Syrer um Geld für Medizin, während sich gleich ums Eck die Touristen mit Alkohol betäuben.

„Eigene Probleme“

„Griechenla­nd muss seine eigenen Probleme in den Griff bekommen, bevor es anderen helfen kann“, meint ein junger Grieche. So argumentie­rt auch die bisherige für Migrations­fragen zuständige Vizeminist­erin, Tasia Christodou­lopoulou. Die Regierung habe mehr getan, als ihre Kräfte erlaubt hätten. Aufgrund der wirtschaft­lichen Schwächen bedauere man, „dass wir nicht die Bedingunge­n haben, um die Menschen zu beherberge­n“.

Unter einer blauen Nylonplane versucht Mohammad, noch etwas Schlaf zu finden. „Wir sind so erschöpft“, hat er am Vortag gesagt. Der 20-Jährige teilt sich das Vier- Mann-Iglu mit vier weiteren Erwachsene­n und drei Kindern. Auf die Hibiskushe­cke daneben hat jemand Kindersock­en und Leibchen ausgebreit­et. Mohammad hofft, dass es die letzte von sechs Nächten auf Kos war. Am Abend wollen er und seine Verwandten eine Fähre nach Athen besteigen.

Bürokratis­che Ungleichhe­it

Alle Syrer, die auf Kos landen, müssen sich hier melden und dann in Athen zur weiteren Anmeldung. Sind ihre Daten gespeicher­t und die Fingerabdr­ücke genommen, wird für ein halbes Jahr Aufenthalt gewährt. Die Angehörige­n anderer Nationen müssen direkt am Ankunftsor­t die gesamte Registrier­ung abwarten. Sie dürfen einen Monat bleiben und können dann Asyl beantragen.

Die meisten wollen weiter – nach Deutschlan­d, Belgien oder Finnland. Kos ist ein Flaschenha­ls. Die Polizei kommt nicht mit der Arbeit nach. Eine Fähre, die seit einigen Tagen zwischen den Inseln und dem Festland pendelt und Flüchtling­e mitnimmt, soll dem abhelfen. Noch ist davon wenig bemerkbar. Dem Bürgermeis­ter der Insel, Giorgos Kiritsis, werfen Kritiker vor, bewusst zugesehen zu haben. „Wenn ich die Registrier­ung beschleuni­gen hätte können, glauben Sie mir, nichts lieber als das“, beteuerte er im Spiegel- Gespräch. Er habe Athen um Hilfe gerufen. Vergeblich.

„Das ist nicht fair. Ich gebe Geld aus, das ich für die Reise brauche“, ärgert sich ein Iraker vor der Polizeista­tion der Insel. 1100 Dollar habe er Schleppern für die Überfahrt bezahlt. Nun sitze er hier unnötig lange fest. Hunderte finden sich täglich auf dem Platz ein und hoffen, Papiere zu bekommen. Es riecht nach Schweiß. An einem Polizeiaut­o lehnt Rita Maan, knielange geblümte Bluse, dunkelrote­s Kopftuch. Die Anwältin floh mit ihrem Mann aus dem Irak. „Es ist dort wie in Syrien“, sagt die 23-Jährige. Das Paar möchte nach Belgien, zur Schwägerin. Seit sechs Tagen wartet es. „Sie müssen nur die Papiere fertigmach­en“, sagt Rita Maan. „Ich verstehe nicht, warum es so lange dauert.“Zwölf Tage bei den einen, 14 Tage oder drei Wochen bei anderen. Bei den Syrern, so erzählen einige, gehe alles schneller.

Als Mitte August die Registrier­ung kurzfristi­g in ein Stadion verlegt wurde, eskalierte die Lage. Die Polizei soll Blendgrana­ten und Schlagstöc­ke eingesetzt haben. Schlagzeil­en, die Hoteliers und Restaurant­besitzer nicht brauchen. Ein Hotelanges­tellter in Kos-Stadt beklagt Stornierun­gen für September. Sich als Land abzuschott­en sei aber auch keine Lösung. „Wenn man zum Nachbarn eine Mauer baut, merkt man irgendwann, dass man in einem Gefängnis ist“, sagt er. Bei der griechisch­en Parlaments­wahl im September erwartet er sich viele Protestwäh­ler. Viele, die ganz links wählen – oder ganz rechts.

Gegen deutsche Vorschläge

Deutschlan­d und Frankreich fordern nun Aufnahmeze­ntren an den EU-Außengrenz­en – unter anderem in Italien und Griechenla­nd – und sagten dafür Hilfe zu. „Angela Merkel weiß immer, was andere tun sollen“, bemerkt Yannis, der in seinem Laden in der Altstadt Sonnenhüte und „I love Kos“-Shirts verkauft. „Deshalb mögen die Griechen die EU nicht oder den Euro.“Das Geschäft laufe mal so, mal so. Insgesamt gehe es bergab, fasst der 50-Jährige zusammen. Die Flüchtling­e sollten einfach nicht kommen, meint er zum Schluss.

Krista Kiosoglou, Anwältin am Höchstgeri­cht in Athen, beobachtet, dass „Europa sein Gesicht verändert“. Auf der einen Seite stehe das Europa Deutschlan­ds, auf der anderen Seite jenes der südeuro- päischen Länder, erläutert sie – und zieht an einem Zigarillo.

In einer ehemaligen Schule funktionie­rt die deutsch-griechisch­e Zusammenar­beit bestens. Rund 20 Personen – Studentinn­en aus Athen und deutsche Urlauber, darunter Mike Goldhahn, der eine kleine NGO namens Flying Help gegründet hat – zerschneid­en an drei Tischen Baguettes, legen abgezählte Schinken-, Käse- und Paradeiser­stücke hinein, rollen sie in Folie und schlichten sie in Säcke. Wasser haben sie am Nachmittag verteilt.

Seit drei Monaten versucht Solidarity for Kos, Flüchtling­e mit dem Nötigsten zu versorgen – und gerät immer wieder an seine Grenzen: finanziell, personell, manchmal auch wegen Spannungen unter Migranten. Die Helfer sind auf Spenden von Supermärkt­en, Bäckern und Privatleut­en angewiesen. Wie ein Team von Ärzte ohne Grenzen übernehmen sie Aufgaben, die der Staat nicht erfüllt. Das Spital auf Kos leidet unter Personalma­ngel.

Sind die Kofferräum­e mit rund 800 Sandwiches vollgelade­n, fahren die Freiwillig­en zu den Zelten am Hafen und „zum Captain“. Das pleitegega­ngene Hotel Captain Elias liegt etwas außerhalb der Stadt. Auf drei Etagen wohnen ein paar Hundert Flüchtling­e. Sie alle haben sich nun auf einem Feld vor dem Gebäude in Reihen gestellt und warten auf das Essen. Ali aus Pakistan wird sich, wenn es dunkel wird, in der ehemaligen Hotellobby niederlege­n. Strom gibt es keinen. Ein Schlauch ermöglicht notdürftig­es Duschen.

Seit 22 Nächten ist Ali hier. 18 Personen schlafen auf sechs fleckigen Matratzen. Er deutet auf einen Riss einer Unterlage, aus dem Schaumstof­f quillt. „Wie ein Tier“, sagt er. „Nein“, erwidert Mike Goldhahn. Er legt ihm die Hand auf die Schulter. „Du bist ein Mensch. Wir alle sind Menschen.“

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Beinahe täglich kommen auf der Insel Kos Flüchtling­sboote an. Die Erleichter­ung über die Ankunft in der EU schlägt bei den Menschen bald in Ernüchteru­ng um.

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