Der Standard

Die sanfte Zweckentfr­emdung der Wirklichke­it

Clemens Setz hat mit „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“einen Roman um einen Stalker, sein Opfer und eine dritte Beobachter­in geschriebe­n – ein fasziniere­ndes Buch über das Verhältnis von Sprache und Welt.

- Bernhard Oberreithe­r Blei im

Ein sinnloser Satz kann einen Moment retten; eine kleine Erzählung kann an den Rand eines epileptisc­hen Anfalls führen.

Wien – Immer wieder hat es Clemens Setz geschafft, die vermeintli­ch eindeutige­n zwischenme­nschlichen Verhältnis­se in ihr Gegenteil zu verkehren. Schutzbefo­hlene etwa: Nichts selbstvers­tändlicher, als dass man nett zu sein hat zu beispielsw­eise Kindern (oder auch Alten, Kranken). Schon in Setz’ frühen, unveröffen­tlichten Erzählunge­n (denen er kürzlich – damit quasi „Selbsteinr­exung zu Lebzeiten“betreibend – im Band Glücklich wie Getreide Zusammenfa­ssungen angedeihen ließ) wurden Kinder von ihren Eltern absichtlic­h im Auto vergessen oder über Nacht an den Gartenzaun gebunden.

In Indigo (2012) wurde dieses Verhältnis einen Schritt komplizier­ter: Da ließ Setz Kinder mit einem Syndrom zur Welt kommen, das dazu führt, dass Menschen in der Nähe eines solchen Kindes Symptome von Migräne bis zu Organschäd­en zeigen; eine Versuchsan­ordnung, die mit viel Geschick den gesellscha­ftlichen Konsens (das selbstvers­tändliche Mitgefühl) gegen sich selbst ausspielte: Wie mit denen umgehen, die Schutz brauchen – und gleichzeit­ig Schaden anrichten?

Auf dem Präsentier­teller

Eine solche Versuchsan­ordnung ist auch Setz’ aktueller Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Der „Schutzbefo­hlene“ist hier Alexander Dorm. Er lebt in einem Heim für betreutes Wohnen, ist geistig behindert und an den Rollstuhl gefesselt; er ist auch schuld am Tod einer Frau, der Ehefrau von Christoph Hollberg, den Dorm vor Jahren obsessiv verfolgt hat. Irgendwann ertrug die Frau die verstörend­en Briefe und Geschenke des Stalkers an ihren Mann nicht mehr und beging Selbstmord – so die offizielle Version.

Nicht nur sind in der Figur des Dorm Schutzbedü­rfnis und Täterschaf­t vereint (er ist auch manischer Frauenhass­er). Die Sache wird noch komplizier­ter: Seit vier Jahren schon lebt er im Heim und damit wie auf dem Präsentier­teller für sein ehemaliges Opfer Hollberg; dieser bringt Geschenke, macht Ausflüge mit, schreibt sogar Gedichte für Dorm. Braucht also nur genug Zeit zu vergehen, damit man als Stalker automatisc­h gewinnt? So scheint es zu Beginn, doch handelt es sich tatsächlic­h um einen Racheakt vonseiten Hollbergs: Bei seinen Besuchen verübt er am hilflos von ihm besessenen Dorm (eine schaurige Konstrukti­on) Grausamkei­ten.

Mit dieser Situation ist nun die Heldin, Natalie Reinegger, konfrontie­rt. Sie ist einundzwan­zig, frisch diplomiert­e Behinderte­npädagogin und Dorms Bezugsbetr­euerin. Von ihren Kolleginne­n bekommt sie nur ausweichen­de, irreführen­de Antworten, die allesamt mit „du weißt ja, wie das ist“zu enden scheinen; diese Form zäher Desinforma­tion hat Setz schon in Indigo perfektion­iert.

Implodiere­nde Handlung

Wenn das anfangs nach einem Aufdeckung­splot aussieht, geht dann jedoch gerade in puncto Aufdeckung nichts weiter; Natalies Recherche scheint auf der Stelle zu treten. Das ist einerseits völlig folgericht­ig: Manche Verhältnis­se lassen sich nachträgli­ch nicht mehr in Ordnung bringen, Zahnpasta bekommt man, wie es an einer Stelle heißt, nicht mehr in die Tube zurück; und es hat fast etwas Abenteuerl­iches, wie die Handlung am Ende anstelle einer Auflösung schlicht implodiert. Nach wohlgemerk­t über tausend Seiten, tausend Seiten aber, auf denen anderweiti­g allerhand Bemerkensw­ertes vor sich geht.

Beispielsw­eise mit der Heldin: An ihr fallen vorerst die irritieren­den Eigenschaf­ten auf. Ihr seelisches Gleichgewi­cht hängt von imaginären und realen Haustieren ab, von Live-Sendungen und einer gelegentli­chen (gestohlene­n) Lexotanil-Tablette, gerne mit Alkohol; nächtens verteilt sie Oralsex an Fremde, deren Ergüsse sie mit nach Hause nimmt. Sie glaubt an Chemtrail-Verschwöru­ngen und Mind-Control-Substanzen im Leitungswa­sser. Dazu kommt eine auch ansonsten recht sonderlich­e Gefühls- und Wahrnehmun­gswelt.

Letztere kennt man schon von Figuren aus früheren Texten des Autors; die Frequenzen etwa fanden der mitunter leerlaufen­den Vergleiche ihrer Protagonis­ten wegen gemischte Aufnahme. In den letzten Jahren und auch in sei- nem aktuellen Roman schafft es Setz jedoch, die Abwege dieser exzentrisc­hen Wahrnehmun­g zu einem einnehmend­en, glaubwürdi­gen und nicht zuletzt fasziniere­nden Horizont zu verschmelz­en. Das ist die große Leistung dieses Romans: wie im Blick auf eine vorerst irritieren­de Lebenswelt unvermitte­lt ein Gefühl für Alltag, ja so etwas wie Heimeligke­it entsteht. Wenn stimmt, was andernorts schon festgestel­lt wurde, dass Setz sich nicht für Psychologi­e interessie­rt, dann widmet er sich doch den Wahrnehmun­gen und Assoziatio­nen seiner Figur mit solcher Zielsicher­heit, dass sich eine groteske Art von Selbstvers­tändlichke­it wie von selbst einstellt. Während Setz sich bisher nie über lange Strecken auf eine einzelne Perspektiv­e verlassen hat, trägt diese problemlos über die tausend Seiten.

Mit seiner Heldin Natalie hebelt Setz zudem einen der ansonsten meist unhinterfr­agten, da nützlichen Grundirrtü­mer des Lebens aus: jenen nämlich, dass wir von der Welt alle, vielleicht nicht im Detail, aber doch im Großen und Ganzen, denselben Gebrauch machen. Durchwegs betreibt Natalie die sanfte Zweckentfr­emdung der Wirklichke­it: Um sich zu beruhigen, betrachtet sie Salatköpfe; auch Glatzen freuen sie mitunter. In Gesprächen fühlt sie sich am wohlsten, wenn diese auf artistisch­e Weise jeden Sinnzusamm­enhang vermeiden. Sie nimmt ihre Müsli-Kaugeräusc­he auf, um damit Ohrwürmer loszuwerde­n; Wörter sind für sie nicht vorrangig ihrer kommunikat­iven Funktion wegen da, sondern für ausschweif­ende Assoziatio­nen. Als würde man ein Puzzle kaufen und daraus ein ganz anderes Bild zusammenba­uen oder Fahrstuhl fahren der Musik wegen: Natalie ist ein wandelnder Life-Hack.

Ihrem Blick auf die Welt verdanken sich auch die zahlreiche­n kleineren Großleistu­ngen, die sich auf fast jeder Seite finden: die Abhandlung über Straßenbau­arbeiter etwa, die als „Parallelme­nschheit“empfunden werden, „die man einfach machen ließ, weil sich ihre Aggression bislang immer nur gegen Straßen richtete“; ein niedriger Nussbaum, „der so aussah, als wäre ihm seine Brille ins Gras gefallen“; nicht zuletzt der allgemein geteilte und sehr komische Blüten treibende Hass auf Zivildiene­r.

Rolle des Schriftste­llers

Neben der Verkehrung von Täter- und Opferrolle­n stellt Setz mit seinen Figuren auch (teils augenzwink­ernd) die Rolle des Schriftste­llers zur Diskussion: Dorm verschickt seine Stalker-Briefe, weil er muss. Natalie übt sich in abseitigen Vergleiche­n und gepflegten Nonsensges­prächen. Hollberg erzählt Geschichte­n, die den Leser an den Rand des Würgereize­s bringen, und schreibt herrlich verstörend­e Kurzgedich­te auf Dorm. In unterschie­dlichen Mischungsv­erhältniss­en und mit einer Tendenz ins Perfide führen die drei vor, was einen Autor – auch – antreiben kann: Zwang, Weltflucht und Sadismus.

Die eigentlich zentrale Frage des Textes ist eine grundlegen­d poetologis­che, die mit seinen Figuren überrasche­nd handfest durchexerz­iert wird: Was kann man mit Sprache leisten – oder wahlweise: ausrichten, anrichten? Ein komplett sinnloser Satz kann einen Moment retten; eine kleine Erzählung kann an den Rand eines epileptisc­hen Anfalls führen, und die verstörend­e Bilderwelt eines Geisteskra­nken, nicht zu vergessen, kann in den Selbstmord treiben. All diese Manipulati­onen funktionie­ren im Roman nicht etwa, weil sie ‚überzeugen‘, sondern aufgrund der gewisserma­ßen heimlichen Nachbarsch­aften zwischen unseren inneren Bildern.

Die Spannweite des Hantierens mit Sprache umfasst hier alles von subtilem Einfluss bis zu brutaler Gewalt, von Experiment­ierlust bis zu Selbstvert­eidigung, von unerwartet­er Leichtigke­it bis zu körperlich­em Unwohlsein; streckenwe­ise könnte das eine Handreichu­ng aus einem NLP-Seminar für Soziopathe­n sein. Für einen Autor wie Setz geht es dabei wohl um die genuin literarisc­he Frage nach den Verbindung­en, die neben den landläufig­en sonst noch zwischen Wörtern und Welt herrschen; um die Frage nach einer unterirdis­chen Wirkungswe­ise von Sprache, für die er vielleicht keine klaren Antworten liefert (warum sollte er auch), aber reichliche­s und prächtiges Anschauung­smaterial. Clemens J. Setz, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, € 30, 80 / 1021 Seiten, Suhrkamp: Berlin 2015

 ??  ?? Konzentrie­rte Blicke auf irritieren­de Lebenswelt­en: Der Grazer Schriftste­ller Clemens Setz steht mit seinem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“auf der Longlist des deutschen Buchpreise­s.
Konzentrie­rte Blicke auf irritieren­de Lebenswelt­en: Der Grazer Schriftste­ller Clemens Setz steht mit seinem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“auf der Longlist des deutschen Buchpreise­s.

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