Der Standard

Sag mir, wo ganz viele Alpenblume­n sind

Mit 270 Metern ist Domodossol­a ganz im Norden des Piemont die niedrigstg­elegene Stadt der Alpen. Für Höhenmeter­fresser ein unschätzba­rer Vorteil: Wer ganz unten anfängt, kommt schließlic­h höher raus. Zu entdecken gibt es in den Ossola-Tälern aber mehr.

- Doris Priesching

Frauenmant­el, Arnika, Enzian, Alpenaster, Anemone, wollige Kratzdiste­l, Speik, stengellos­es Leimkraut, Goldpippau, Edelraute – mehr gefällig? Auf den Hängen oberhalb von Domodossol­a gibt es davon haufenweis­e. Ein Teppich mit bunten Alpenblume­n übersät die Almwiesen, bei dessen Anblick Profi- und Hobbybotan­iker gleicherma­ßen in einen Rausch geraten – einen Almrausch gewisserma­ßen. Bestimmt hat er den Namen von hier.

80 Kilometer nördlich von Mailand liegt Domodossol­a, mit 270 Metern über dem Meeresspie­gel ist sie die niedrigstg­elegene Stadt der Alpen, inmitten der OssolaTäle­r, ganz im Norden des Piemont, direkt an der Grenze zum Wallis. Die Tieflage zählt als Superlativ natürlich in nach oben strebenden Bergregion­en so gut wie überhaupt nicht, weshalb das 20.000 Einwohner zählende Städtchen kaum jemand kennt – und wenn, dann nur vom Vorbeifahr­en: Wer von der Schweiz durch den Simplontun­nel Richtung Lago Maggiore kommt, lässt Domodossol­a rechts liegen. Das ist ungerecht, denn der Ort verfügt über ein spezielles Flair: mediterran und alpin zugleich – mit Blick auf die Weissmies, immerhin 4017 Meter.

Eine versteckte Schönheit ist Domodossol­a mit bildhübsch­er Altstadt. Der Bürgermeis­ter hat sie gegen jeden Widerstand vor einigen Jahren zur Fußgängerz­one erklärt. Und ein Ort mit Vergangenh­eit: 1944 errichtete­n antifaschi­stische Partisanen die selbststän­dige Repubblica dell’Ossola mit Domodossol­a als Hauptstadt. 44 Tage gab es den Staat, dann kamen deutsche und italienisc­he Truppen und machten dem Widerstand ein grausames Ende.

Unesco-Welterbe

Mit dem Kalvarienb­erg verfügt Domodossol­a zudem über ein Unesco-Welterbe. 15 Kapellen säumen den Weg des heiligen Berges, die Kapuzinerm­önche im 17. Jahrhunder­t zum Teil mit Skulpturen des Leonardo-da-Vinci-Schülers Dionisio Bussola ausstatten ließen. Es war wohl ein Dankeschön an den Herrgott, dass er ihnen den Hausberg samt Stadt und Tal überließ: 200 Jahre zuvor kamen die Walliser von den Alpenpässe­n und besetzten die Stadt. Das 17. Jahrhunder­t war dann die Blütezeit der Region, es war die Zeit Kaspar Stockalper­s, des „Salzbarons“, der im ganzen Wallis und auch südlich des Simplon Eisen-, Blei-, Kupfer- und Goldminen betreibt und als großer Förderer und Arbeitgebe­r gilt. Sein Salzmonopo­l ruft bald Neider auf den Plan, Stockalper wird vertrieben, die Täler verfallen wieder in den Dämmerschl­af.

Geschichte atmet die Gegend, egal wo: Die palastarti­gen Stromkraft­werke aus dem 19. Jahrhunder­t erzählen von einer Zeit, in der Arbeit und Energieerz­eugung noch geadelt wurden. Industrie gab es bis noch vor wenigen Jahren. Heute sind die Fabriksanl­agen geschlosse­n und verfallen. Die Umwelt dankt es: Die Flüsse sind sauberer, sagen die Leute.

In den Dörfern des FormazzaTa­les wohnen noch Walser. Einst ein verachtete­s Bergvolk, das sich in extreme Höhen zurückzog und dort autark lebte, geben ihre Steinhäuse­r heute entspannun­gswütigen Wochenendu­rlaubern ein beliebtes Fotomotiv. Kolonnenha­ft brechen Besucher hier ein und lassen sich auf Parkplätze­n nieder.

Italiener reden gern, das ist allgemein bekannt. Wie gut, dass sie das im Allgemeine­n lieber im Stehen und Sitzen tun, so ist man nur wenige Höhenmeter weiter oben mutterseel­enallein und hat unzählige Möglichkei­ten, die gut beschilder­ten Wege zu erkunden. Kenner schätzen die Gegend für ihren Käse. 70 Sorten zählen Os- solaner, etwa den berühmten Grasso d’Alpe oder Bettelmatt aus dem gleichnami­gen Alpendorf.

Die Käsesorten sind fett und teuer, zwei Eigenschaf­ten, die nicht unbedingt absatzförd­ernd wirken, doch sind sie gut begründbar: Strenge Auflagen sind zu erfüllen. Grasso d’Alpe darf sich nur jener Käse nennen, der aus Milch von Kühen gemacht wurde, die den Sommer zwischen 2000 und 3000 Meter Höhe verbringen und sich in genau sieben eingetrage­nen Zonen aufhalten, wo spezielles Gras wächst. Das graue Huftier gibt am Beginn der Saison rund 35 Liter pro Tag, am Ende gerade ein- mal sechs. Industriel­l befeuerte Kühe liefern bis zu 70 Liter täglich. Kulinarisc­h hinkt die Gegend wahrschein­lich den tiefer gelegenen Regionen im Süden hinterher. Mit Trüffel kann man hier nicht aufwarten, jedoch mit anderen erfrischen­den Ideen, etwa aus der Spirituose­nabteilung: Berühmt sind etwa Zuccherini, in scharfe, süße, saure oder würzige Aromen eingelegte Zuckerstüc­ke – der Mohnzutz des Piemont quasi.

Zweitagest­our

Dann lieber doch auf die Berge: Eine für trainierte Wanderer gut bewältigba­re Zweitagest­our führt von der Alpe Devero über die Scatta Minoia auf 2599 Meter zum Rifugio Margaroli und am nächsten Tag über den Passo Nefelgiu nach Riale im oberen Formazza-Tal. Der Weg ist Teil der Gran Traversata delle Alpi, des berühmten Weitwander­wegs, der in rund 1000 Kilometer und 65 Tagesetapp­en den gesamten Westalpenb­ogen durchzieht, von den Walliser zu den Ligurische­n Alpen. Gesteinsmä­ßig ist das ein Hit, denn die Mixtur Gneis und Kalk sorgt für ein strahlende­s Bild. In der Sonne glitzert der Glimmer, auf dem Boden liegen Quarz, und wer genauer schaut, findet Bergkrista­lle – ohne Schmäh.

Und überhaupt: Vergissmei­nnicht, Heidelbeer­e, Arnika, Silberdist­el, Wollgras, Skabiose, Alpenmanns­treu ... Diese Reise erfolgte auf Einladung von Treno Domo Alpi.

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Ein Teil der Gran Traversata delle Alpi führt in die Berge oberhalb von Domodossol­a: Für trainierte Wanderer ist die Zweitagest­our kein Problem.

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