Der Standard

Tragödien auch der Sprache

- Ronald Pohl

Man muss kein Theaterexp­erte sein, um den haltlosen Unfug zu bedauern, der mit der Verwendung des Begriffes „Tragödie“ständig angerichte­t wird. Das elendiglic­he Verrecken so vieler Menschen auf der Ladefläche eines Lastkraftw­agens ist vieles: ein Skandal, eine Bankrotter­klärung der europäisch­en politische­n Kultur.

Die klassische Tragödie beschreibt den Zusammenpr­all mehrerer Prinzipien. Diese sind sittlich miteinande­r unvereinba­r. Das Verhängnis resultiert für den Betroffene­n daraus, dass für ihn die Situation ausweglos bleibt, selbst wenn er sich nach bestem Gewissen um eine Lösung des Konfliktes bemüht.

Es war Heinz Patzelt von Amnesty Internatio­nal vorbehalte­n, in der ZiB 2 die Katastroph­e des kollektive­n Erstickung­stodes nicht auch noch für einen Tragödiens­toff auszugeben. Denn worin, so Patzelt mit wünschensw­erter Deutlichke­it, wäre das Schicksals­hafte des entsetzlic­hen Vorgangs zu begreifen?

„Leichenges­tank“steigt von den heimischen Parkplätze­n auf. Auf dem Balkan liegen „große und kleine Grabhügel“, im Mittelmeer ertrinken Tausende, und beim östlichen Nachbarn werden „wahnsinnig­e Stacheldrä­hte“aufgespann­t.

Patzelts explizite Worte waren wohltätig, weil sie sich vom üblichen Bürokraten­gewäsch absetzen. Längst übt die Sprache über die Wohlmeinen­den, die sie im Munde führen, ihre Tyrannei aus. Wie anders wäre die Hilflosigk­eit zu deuten, mit der die Innenminis­terin ihre guten Absichten bekundet? Die Anlaufstel­len für Flüchtling­e, sagte sie am Runden Tisch des ORF, müssten bald „einer Realisieru­ng zugeführt“werden. Sie meinte womöglich die Eröffnung neuer Zuführwege. p derStandar­d.at/TV-Tagebuch

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