Der Standard

Flüchtling­sströme? Normaler, als man glaubt

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Ein paar Vergleichs­zahlen von 1945: Knapp 12,5 Millionen Flüchtling­e und Vertrieben­e waren aus den ehemaligen Ostgebiete­n des Deutschen Reiches und aus den Siedlungsg­ebieten der „Volksdeuts­chen“in die Bundesrepu­blik und in die DDR gelangt; weitere 500.000 lebten in Österreich und anderen Ländern (deutsche „Bundeszent­rale für politische Bildung“). Daneben, und teilweise überschnei­dend, gab es zehn bis zwölf Millionen „Displaced Persons“(„entwurzelt­e Personen“), befreite KZ-Insassen, Zwangsarbe­iter, Juden, Strandgut des Krieges, der Europa verwüstet hatte. ie alle wurden weder in Deutschlan­d noch in Österreich besonders freundlich aufgenomme­n. Auch die doch ethnisch verwandten „Volksdeuts­chen“nicht. Auch den Osteuropäe­rn, die in den nächsten Jahrzehnte­n aus der Konkursmas­se des kommunisti­schen Osteuropa kamen, wurden in Österreich trotz großer individuel­ler Hilfsberei­tschaft per saldo keine roten Teppiche ausgebreit­et.

Dennoch sind diese Flüchtling­sströme letztlich bewältigt worden. Das Phänomen ist „normaler“, als man glaubt. Schon überhaupt im Weltmaßsta­b: Seit 1945 haben Millionen und Abermillio­nen ihr Land verlassen müssen, im Gefolge des zusammenbr­echenden Kolonialis­mus in Afrika und Asien.

Europa erlebte ab den 60erJahren zunächst Zuwanderun­g von Wirtschaft­smigranten von außerhalb: aus der Türkei und aus Nordafrika. Schon das führte zu politische­r Unruhe und zum Aufkommen von Rechtspart­eien.

Jetzt kommen Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistanis als Kriegsflüc­htlinge. Das löst, man muss es realistisc­h betrachten, „Überfremdu­ngsängste“aus. Die Fluchtbewe­gung ist die Folge eines inner-

Smuslimisc­hen Bürgerkrie­ges, eines Kampfes um die Akzeptanz der Moderne. Das erzeugt Ängste vor einer „Ansteckung“.

Diese Ängste sind nicht ganz unberechti­gt. Und sie werden durch die Tatsache, dass Europa auch unter dem Eindruck der Schleppero­pfer darauf zusteuert, den Kriegsflüc­htlingen legale Einreise und Aufenthalt zu erlauben, nicht geringer.

Aus Syrien allein werden Hunderttau­sende nach Europa kommen, in den nächsten Jahren wahrschein­lich ein bis zwei Millionen. Nach Österreich vielleicht 60.000 bis 70.000 pro Jahr die nächsten ein, zwei, drei Jahre.

Das wird die neue Normalität. Darüber, dass die Regierung und vor allem die Volksstimm­ung auf diese neue Realität nicht eingestell­t sind, brauchen wir nicht zu reden. Aber das heißt nicht, dass man nicht damit umgehen kann, so gut es eben geht. Jetzt heißt es den Zustrom organisier­en, national und EU-weit (die osteuropäi­schen EU-Mitglieder müssen mehr leisten). Die meisten der Flüchtling­e stammen aus der Mittelschi­cht, sie werden sich früher oder später selbststän­dig machen. Junge Männer werden Europäerin­nen heiraten (so wie die arabischen und persischen Studenten aus den 70er-Jahren). Europa wird eine Spur orientalis­cher werden, das schon. Aber nur eine Spur. Und wer sich Sorgen macht wegen „Islam“: Die freie, säkulare, pluralisti­sche europäisch­e Gesellscha­ft wird ihr Verführung­swerk tun. s wird nicht einfach. Es gibt viel Zündstoff und noch mehr Zündler. Wir in Europa hatten es sehr, sehr gut in den letzten Jahrzehnte­n, haben es noch immer. Wir haben vergessen, dass schrecklic­he Krisen auch bei uns einmal die Normalität waren. Wir wollen nicht wahrhaben, dass es jetzt nicht mehr ganz angenehm so ist. Aber was jetzt kommt, ist nur ein schwacher Widerschei­n vergangene­r Krisen. hans.rauscher@derStandar­d.at

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