Der Standard

Magier der Vergegenwä­rtigung

Jenseits der Zwänge genormter Wahrnehmun­g: Erwin Einzinger wirbelt in seinem Roman „Ein kirgisisch­er Western“im Sediment des Alltags Goldstaub auf.

- Gerhard Melzer

So ein Kunststück muss erst einmal gelingen: Da vermeidet einer über nahezu fünfhunder­t Seiten hinweg jeden Anflug konvention­ellen Erzählens, und zuletzt hat er trotzdem eine Erzählwelt unvorstell­baren Reichtums ausgebreit­et. Erwin Einzinger, der diesen Spagat in seinem jüngsten Roman scheinbar mühelos schafft, gehört zu den großen Unbekannte­n der österreich­ischen Literatur. Das mag nicht zuletzt einer Erzählweis­e geschuldet sein, die von jeher die Ordnung und den Zusammenha­ng von Geschichte­n verweigert.

Die Devise etwa, unter die Einzinger sein Prosabuch Das wilde Brot (1995) stellte, lautete: „Löchrig schreiben. Alles sogenannte Nebensächl­iche und Zufällige klar hervortret­en lassen, während die großen und festen Umrisse bestenfall­s den Hintergrun­d bilden ...“Ähnlich verfährt Einzinger auch im Kirgisisch­en Western. Schon der Titel erweist sich als Provokatio­n, denn was es damit auf sich hat, erfährt man erst ganz am Schluss, und dass man es dann weiß, fügt dem Verständni­s des Buches nicht unbedingt neue Facetten hinzu.

Dieses Verständni­s hat bis dahin längst ablassen müssen von allen Erwartunge­n, die auf narrative Stringenz und Geschlosse­nheit gerichtet waren. Nicht zufällig ragen Bruchstück­e eines Roadmovies durch das zerschliss­ene Textgewebe. Einem bewährten literarisc­hen Modell folgend, erscheinen Reise- und Erzählbewe­gung synchronis­iert, doch es ist in diesem Fall eine wüst mäandernde, ziellose Bewegung, die Einzinger entfesselt. In diese Bewegung eingelager­t ist nicht die eine, zusammenhä­ngende Geschichte, sondern ein Ensemble aus zahllosen angerissen­en und abgebroche­nen Episoden.

Über diesen Episoden schwebt leicht, luftig und souverän eine Erzählinst­anz, die sich alle Freiheiten des Abschweife­ns und Hakenschla­gens nimmt. „Da es im Verlauf des bisher Berichtete­n noch kein einziges Mal so richtig geschüttet hat, wird es langsam Zeit, dass auch eine ordentlich­e Schlechtwe­tterwoche Erwähnung findet.“Die Poetik, der Einzinger verpflicht­et ist, bringt Geschichte­n über Geschichte­n hervor, einen wahren „Ansturm der Einzelheit­en“, in dem man leicht den Überblick verliert und, geht es nach dem Autor, auch verlieren soll. Was eine der vielen namenlosen Figuren einem Gesprächsp­artner empfiehlt, erscheint in Einzingers detailtrun­kenem Romankosmo­s verwirklic­ht: „Erzählen Sie doch weiter einfach drauflos und lassen Sie eins aufs andere folgen, wie es Ihnen gerade in den Sinn kommt. Es muss sich nicht alles erschließe­n.“

Einzinger vermeidet es, die Deutungsho­heit über sein Erzählgebi­lde zu gewinnen. Sein Roman saugt in einem fort Welt an, die er in ihrer Vielfalt und Fülle auf sich beruhen lässt. Er unterwirft diesen Reichtum keiner Ordnung, sondern bringt ihn zum Leuchten. Was sich im Kirgisisch­en Western ereignet, ist kaum wiederzuge­ben. Stattdesse­n entfaltet der Text seine ganze Wirkkraft im Moment des Lesens. Einzinger ist ein Magier der Vergegenwä­rtigung.

Während Erzählzusa­mmenhänge undeutlich bleiben, treten Din- ge, Situatione­n, atmosphäri­sche Gegebenhei­ten mit großer Klarheit und Trennschär­fe zutage.

Entbunden von den Zwängen genormter Wahrnehmun­g, zielen Blick und Sprache auf den abgründige­n Eigensinn der Welt. Wie er beispielsw­eise in der Beschreibu­ng eines Sommertage­s aufblitzt, in den schon der nahende Herbst hineinspie­lt: „An einem späten Augustnach­mittag zusehen, wie erste vertrockne­te Blätter aus den Bäumen ins Gras segeln, während andere, noch einigermaß­en grüne, ihre endlosen Ruderbeweg­ungen an ihren Zweigen vollführen (...). Vor den Stufen eines Gutshofs arbeitet ein Gebückter mit der Schleifmas­chine. Staub auf den Gräsern am Weg. Am Tümpel dahinter trinken müde Bienen, und am Himmel stehen Schleierwo­lken.“

Einzingers Schreiben treibt, wie es an einer Stelle einmal heißt, die schönsten „Augenblick­sblüten“, deren wild wuchernde Abfolge dann freilich doch die eine oder andere Orientieru­ngsboje wieder- kehrender Motive und Themen erkennen lässt. Dazu gehören etwa Musikzitat­e von Chopin bis Howlin Wolf, wie sie schon Einzingers fantastisc­he Geschichte der Unterhaltu­ngsmusik instrument­iert hatten. Oder das Schürfen und Waschen von Gold, das zusehends zur leitenden Energie der Reiseund Erzählbewe­gung wird.

In der Goldsuche manifestie­rt sich letztlich die Sehnsucht nach Glück, doch die Rastlosigk­eit, mit der Einzingers Personal durch den Roman streunt, macht deutlich, dass diese Sehnsucht ungestillt bleibt.

Nuggets, die das große Glück verheißen, sind kaum noch zu finden. Aber immerhin glänzt da und dort in den trüben Sedimenten des Alltags so etwas wie Goldstaub auf. Einzingers Sprache ist darauf aus, diesem zarten Schimmer Geltung zu verschaffe­n, und erhält damit die Hoffnung aufrecht, dass die Suche dereinst – gegen allen Augenschei­n – doch erfolgreic­h sein könnte: Wo schon kein Glanz ist, soll wenigstens Abglanz sein.

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Foto: Corn Geschichte­n über Geschichte­n und ein „Ansturm der Einzelheit­en“: Erwin Einzinger.
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Erwin Einzinger, „Ein kirgisisch­er Western“. Roman. € 24,90 / 476 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2015

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