Der Standard

Wer schneidet ihnen die Haare?

Woher bekommen sie ihr Essen? Und wie leben sie? Die rumänische Schriftste­llerin Liliana Corobca schreibt über das harte Leben moldawisch­er Kinder, deren Eltern sie zurücklass­en, um im Ausland Arbeit zu finden.

- INTERVIEW: Ingo Petz

Standard: Sie haben sich in Ihrem neuen Roman, der auf Rumänisch „Kinderland“heißt, eines tragischen Themas angenommen – Kinder, die in Moldawien ohne Eltern aufwachsen. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?

Corobca: Ich verbringe viel Zeit bei meinen Eltern in der Republik Moldau, und eines Tages wurden wir von einem Dorfbewohn­er besucht, der von seinem Sohn begleitet wurde. Der Junge hatte ängstliche Augen. Er wollte nicht spielen, nicht sprechen. Stattdesse­n beobachtet­e er nur seinen Begleiter, der sein Vater war. Der war ins Ausland gereist, um dort zu arbeiten. Dort traf er eine andere Frau und verließ seine Familie. Dieser Junge kannte also seine Eltern kaum. Seine Mutter war ebenfalls im Ausland, um zu arbeiten. Wenn der Vater im Urlaub nach Hause kam, nahm er seinen Jungen mit zu Freunden und Bekannten. Der Vater trank gerne, und manchmal passierte es, dass er seinen Jungen im Suff vergaß. Deswegen war der Bub so auf seinen Vater bedacht. Diese Begegnung hat mich nicht losgelasse­n, und ich begann, mich mit dem Thema auseinande­rzusetzen.

Standard: Das heißt: Eltern lassen ihre Kinder zurück, weil sie im Ausland arbeiten?

Corobca: Moldawien ist ein kleines und leider sehr armes Land am Rande Europas. Die Arbeitsmig­ration ist sehr ausgeprägt, gerade auf dem Land, wo es nahezu keine Arbeit gibt. Zur Zeit der Sowjetunio­n haben viele im Wein- oder Obstanbau gearbeitet. Aber dieser Wirtschaft­szweig bietet kaum noch Arbeitsplä­tze für die Landbevölk­erung. Deswegen verlassen Frauen und Männer ihre Dörfer, um als Pflegekräf­te oder Bauarbeite­r Geld in der EU oder in Russland zu verdienen. Kinder sind die Leidtragen­den dieser Situation. Weil die Arbeiten der Eltern häufig illegal sind, werden die Kinder zurückgela­ssen.

Standard: Wie viele Kinder wachsen in Moldawien ohne Eltern auf?

Corobca: Dazu gibt es unterschie­dliche Schätzunge­n. Man sagt, dass es rund 100.000 Kinder in Moldawien gibt, die nur mit einem Elternteil aufwachsen oder sogar ganz ohne Eltern. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch in Rumänien.

Standard: Ihr Roman ist 2013 in Rumänien erschienen. Hat sich für die Kinder seither etwas verändert?

Corobca: Es gibt immer mehr Organisati­onen, die sich des Problems annehmen und versuchen, Eltern und Kindern zu helfen. Aber die Behörden in Moldawien verschließ­en die Augen. Meiner Ansicht nach wird nicht genug getan, um das Problem zu bekämpfen.

Standard: Ihr Roman zeigt eindrückli­ch das Innenleben der zwölfjähri­gen Kristina, die sich um ihre beiden kleineren Brüder kümmert. Wie haben Sie für den Roman recherchie­rt?

Corobca: Ich selbst bin in einem Dorf geboren und aufgewachs­en. Deswegen kenne ich die Verhältnis­se dort gut. Noch heute verbringe ich viel Zeit bei meinen Eltern, die am örtlichen Gymnasium als Lehrer beschäftig­t sind und deswegen genau wissen, was im Dorf vor sich geht. Ich habe einen sieben Jahre jüngeren Bruder. Für das Buch hat es mir geholfen, mich daran zu erinnern, welche Beziehung ich als ältere Schwester zu ihm hatte. Ich selbst bin zwar nicht ohne Eltern aufgewachs­en. Aber als ich an dem Roman arbeitete, befand ich mich in einer Phase meines Lebens, in dem ich mir Kinder und Familie wünschte. Ich fragte mich: Wie kann man seine eigenen Kinder zurücklass­en? Der Roman war also auch ein Versuch, mich mit dieser Frage emotional eingehend zu beschäftig­en. Dabei stellte ich mir vor, dass ich über meine Kinder schreibe, und gleichzeit­ig, dass ich diese Kinder bin. Natürlich habe ich auch recherchie­rt. Aber die trockene Recherche war nur dazu da, um bei den Fakten keinen Fehler zu machen. Die Grundlagen aber waren Zärtlichke­it, Liebe und die Fragen der Ungerechti­gkeit und Hilflosigk­eit. Und so etwas lässt sich nur über die Literatur beantworte­n.

Standard: Mit welchen Problemen haben die Kinder am meisten zu kämpfen?

Corobca: Es ist eine Sache, wenn man mit einem Elternteil oder bei den Großeltern aufwächst. Aber mich hat die Extremsitu­ation interessie­rt. Kinder, die ganz ohne Eltern aufwachsen. Wie leben die? Wie meistern sie die Alltagspro­bleme? Ich meine nicht nur seelische, sondern ganz praktische. Woher bekommen sie Essen? Ko- chen sie selbst? Wer schneidet ihnen die Haare? Wer erinnert sie daran, dass sie sich waschen müssen? Was ist, wenn ein Kind von einer Zecke gebissen wird, wie ich es beschreibe. Gerade die Buben kopieren häufig die männlichen Erwachsene­n und beginnen zu fluchen. Das Leben auf dem Dorf ist nicht romantisch, sondern rau. Aber ich gebe zu: Die Realität kann noch grausamer sein, als ich es in dem Roman beschreibe. Kinder können auch Opfer von Missbrauch werden. Und Gewalt ist ohnehin allgegenwä­rtig.

Standard: Ist der Staat völlig machtlos bei diesem Problem?

Corobca: Das Schlimme: Auch die moldawisch­e Gesellscha­ft hat diese Kinder vergessen. Erst wenn die Gesellscha­ft beginnt, sich für sie zu interessie­ren, wird der Staat gefordert sein. Diese Kinder haben einfach keine Lobby. Sie können sich nicht für ihre Rechte einsetzen. Die Unterstütz­ung von Organisati­onen ist nicht ausreichen­d.

Standard: Kristina im Roman ist ein sehr starkes Mädchen. Gab es ein reales Vorbild für sie?

Corobca: Nein. Kristina ist das Produkt meiner Imaginatio­n, das sich aufgrund der Geschichte­n, die ich gehört habe, und der Begegnunge­n, die ich hatte, herausgebi­ldet hat. Sie ist stark, weil sie es sein muss. Sie kocht für ihre Brüder, tröstet sie, wenn sie traurig sind. Ich wollte ein lebensnahe­s, normales Mädchen zeigen, keine Überfigur.

Standard: Man bekommt den Eindruck, dass die Frauen ein Glück für das Leben in Osteuropa sind. Ist das so?

Corobca: Das kann gut sein. Frauen sind in existenzie­llen Situatione­n häufig etwas pragmatisc­her und handlungss­tärker. Sie sind nicht so mit sich selbst beschäftig­t. Ich wollte zeigen, wie ein junges Mädchen sich dem Schicksal stellt und das schwere Leben ohne Eltern bewältigt. Trotz der traurigen der Ereignisse wollte ich eine hoffnungsv­olle Geschichte erzählen. Mir war intuitiv klar, dass ich das nur über eine weibliche Hauptfigur zeigen konnte.

Standard: Kristina steht an der Schwelle vom Kind- zum Erwachsene­nsein. Hat sie unter ihren Lebensumst­änden überhaupt eine Chance, langsam und „gesund“erwachsen zu werden?

Corobca: Das ist ein weiterer Aspekt, der mich interessie­rt hat: das Reifen eines jungen Mädchens, das unter harten Lebensumst­änden bemüht ist, ihren Optimismus und ihren Charakter zu bewahren. Kristina hat gelernt in allem, was sie umgibt, Liebe zu suchen: in den Tieren, die auf dem Hof und im Wald leben, in den Mysterien, die das Dorfleben bereithält. Die Schwierigk­eiten machen sie manchmal traurig, aber auch klüger. Diese positive psychologi­sche und spirituell­e Entwicklun­g wollte ich beschreibe­n. Das ist doch, was das Leben zum Leben macht.

Standard: Im Roman wird häufiger gesagt, dass die Kinder aufgehört haben zu weinen, weil das Weinen nichts bringe. Was passiert, wenn man aufhört zu weinen? Werden die Kinder depressiv?

Corobca: Auch wenn das ländliche Leben hart ist, dort leidet niemand unter Depression­en. Dies ist eher eine Krankheit des satten Lebens in der Stadt. Kinder weinen manchmal. Sie hören auf zu weinen, weil sie ihr Schicksal intuitiv akzeptiere­n. Kinder, die keine anderen Lebensentw­ürfe kennen, akzeptiere­n ihre Situation schnell. Für sie ist es irgendwann normal, dass die Eltern nicht da sind und sie allein klarkommen müssen. Kinder können ihre Tragödie gar nicht realisiere­n.

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Viele verlassen ihre Dörfer, um in der EU oder Russland Geld zu verdienen. Kinder sind die Leidtragen­den dieser Situation.
 ??  ?? Liliana Corobca, geb. 1975 in Moldawien, lebt als Literaturw­issenschaf­terin und Schriftste­llerin in Bukarest. Ihr Roman „Der erste Horizont meines Lebens“(Zsolnay) wurde aus dem Rumänische­n von Ernest Wichner übersetzt.
Liliana Corobca, geb. 1975 in Moldawien, lebt als Literaturw­issenschaf­terin und Schriftste­llerin in Bukarest. Ihr Roman „Der erste Horizont meines Lebens“(Zsolnay) wurde aus dem Rumänische­n von Ernest Wichner übersetzt.
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„Kinderland“heißt ihr Roman auf Rumänisch.
Foto: Petrina Hicks Liliana Corobca: „Kinderland“heißt ihr Roman auf Rumänisch.

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