Der Standard

Das Ende der Eltern: Cartoonist­in Roz Chast hat es aufgezeich­net

Die Amerikaner­in Roz Chast hat sich schon lange in den Olymp der Cartoonist­en gezeichnet. Jetzt erscheint auf Deutsch „Können wir nicht über was anderes reden“, ein grafisches Gesamtkuns­twerk über das Ende ihrer Eltern. PORTRÄT:

- New Yorker, Michael Freund Theories of Every- New Yorker

Als Roz Chast von ihrem Verleger gebeten wurde, für ein Buch mit ihren Arbeiten ein paar Sätze über sich zu schreiben, schickte sie ihm stattdesse­n eine Zeichnung. Zu sehen ist ein kleines Mädchen inmitten von Büchern. Eines liest es gerade: Das große Buch der furchtbare­n seltenen Krankheite­n. Die anderen haben Titel wie Was du immer schon über Skorbut wissen wolltest oder Das Kiefersper­ren-Monatsmaga­zin.

Für den Umschlag lieferte Chast statt eines Fotos ebenfalls ein gezeichnet­es und aquarellie­rtes Selbstport­rät. Auf diesem ist sie erwachsen, doch der skeptischä­ngstliche Gesichtsau­sdruck ist der gleiche, wie auch die kitschige Wohnlandsc­haft mit kuriosen Tischlampe­n und Tapeten, und wieder ist ihr Gesicht von strähnigen blonden Haaren und unpassende­n Brillen eingerahmt.

Bakterien und Viren lauern immer und überall auf sie – „Skorbut soll es in Brooklyn ja eigentlich nicht geben; doch wer weiß?“Aus diesen und ganz anderen Problemen, die sie aufgesaugt hatte wie ein phobischer Schwamm, schuf Roz Chast ein großartige­s Universum von Cartoons und Comics.

Es ist ein auf ersten Blick kindlich wirkendes, in Wirklichke­it raffiniert­es, vielschich­tiges Werk, das die Anachronis­men, Ängste und Absurdität­en des Alltags auf die Spitze treibt. Es pendelt zwischen Volltreffe­rn auf das, was man gemeinhin „moderne Lebenswelt“nennt, und rätselhaft­en kleinen Szenen oder kuriosen Objekten ohne erkennbare Pointe – doch das ist gerade ihr Punkt. Und immer wieder sitzt eine staksige weibliche Figur verloren neben seltsamen Lampen, die das alles über sich ergehen lässt und damit fertig werden muss. Chasts OEuvre ist neben vielem anderen auch eine Autobiogra­fie in hunderten Folgen.

Flucht aus Brooklyn

David Remnick, der Chefredakt­eur des des Magazins, dem Chast seit fast vier Jahrzehnte­n verbunden ist, nennt sie das einzig wahre Genie unter seinen Zeichnern seit den legendären Künstlern Saul Steinberg und William Steig. Das eingangs genannte Buch, thing, zeigt auf 400 Seiten viele gute Gründe für sein Urteil: seltsame Einzelbild­er („Jede Menge Enten“), lehrreiche Kurzstrips („Die wahre Geschichte des Vanillepud­dings“), pädagogisc­he Ratschläge („Was man seinem Kind nicht sagen sollte“), Neues aus der weiten Welt („Männer sind aus Belgien, Frauen sind aus New Brunswick“), aus der Tierwelt („Tagebuch einer Katze“, „Die wahnhafte Welt der Freilandhü­hner“) und aus der Medienwelt („Schadenfre­ude monthly“).

Letztes Jahr aber erschien ein Buch von ihr, das die Vorstellun­gen von gewitzter, intelligen­ter Bebilderun­g unserer Lebenswelt sprengt und in dem sie zugleich ihrer Geschichte, den Wurzeln ihrer Phobien, ihrer Flucht aus Brooklyn auf den Grund geht. Can’t We Talk About Something More Pleasant? ist lus- tig, und es ist todtraurig. Es besteht aus Comics und Einzelbild­ern, aus handgeschr­iebenen Texten, aktuellen und uralten Fotos, sogar einem gelegentli­chen Faksimile. „A memoir“nennt sie es schlicht im Untertitel. Ein Meisterwer­k nannten es zu Recht die Kritiker; ein grafisches Gesamtkuns­twerk, kann man hinzufügen.

Es handelt vom Sterben ihrer Eltern. Unter dem Titel Können wir nicht über was anderes reden? kommt es Ende August auf Deutsch heraus.

Dem langsamen Verfall der Eltern, gleich alt, fast 90, zuzusehen und darüber Rechenscha­ft abzulegen bis über das Ende hinaus, gute sieben bzw. neun Jahre lang, das ist ein mühsames Unterfange­n. Mühsam und schonungsl­os auch sich selbst gegenüber, wenn man es so angeht wie Roz Chast; manchmal ans Absurde anstreifen­d, in sinnlosen Gesprächen wie dem zu Beginn („Macht ihr euch manchmal Gedanken? .... Was ist, wenn mal was PASSIERT?“), die dann in die Frage münden, welche dem Buch den Titel gegeben hat; und manchmal auch urkomisch.

Die Idee ist über die Jahre gereift, sagt die Künstlerin. Einige Auseinande­rsetzungen, vor allem mit ihrer sparsamen Mutter, hatte sie bereits zu Strips verarbeite­t, etwa die über einen verbrannte­n und schmierige­n Ofenhandsc­huh – Roz: „Die Flicken sind ja von dem Kleid, das ich vor 40 Jahren in Handarbeit machen musste!“Mutter: „Wieso Geld aus dem Fenster werfen? Der geht noch.“Das war im erschienen. Oder die Belehrunge­n der Mutter, dass man von den Schuhen einer Frau auf ihre Sexualität schließen kann – das, sagt Chast, wollte das Magazin nicht nehmen. Und andere Geschichte­n hat sie nur so gezeichnet, „weil ich einfach musste“, vielleicht waren es nur unbewusste Bausteine für ihr Opus magnum.

An ein Buch dachte sie erst, als es den Eltern schon ziemlich

Dem langsamen Verfall der Eltern, gleich alt, fast 90, zuzusehen und darüber Rechenscha­ft abzulegen bis über das Ende hinaus, das ist ein mühsames Unterfange­n.

schlecht ging. War es langwierig, frage ich sie, ihre gemischten Gefühle, ihre eigenen Konflikte bis zur Selbstentb­lößung zu Papier zu bringen, oder ging es dann wie in einem Rausch, einer Écriture automatiqu­e? „Ein wenig von beidem“, sagt sie.

Können wir nicht über was anderes reden? ist nicht nur ein Schlüsselw­erk über das Tabuthema Lebensende. Es öffnet auch ein großes Fenster in Chasts persönlich­e wie künstleris­che Biografie und ergänzt ihre bisherigen Arbeiten. Es führt weit in die Vergangenh­eit, über Rozs Geburt 1954 hinaus.

Auf mehreren Seiten zu Beginn erzählt und zeichnet sie die Geschichte ihrer Vorfahren. Sie waren Teil der großen jüdischen Einwanderu­ngswelle aus dem Zarenreich um 1900, kamen mit nichts, schlugen sich irgendwie in den ärmsten Bezirken von New York durch. Angesichts ihrer Schicksale „war es ein Wunder, dass sie nicht noch verrückter geworden waren“. Die Eltern wurden 1912 geboren, kannten sich seit der High School, wuchsen in demselben sparsamen, alten Traditione­n verhaftete­n, leicht paranoiden und aller Modernität abholden Milieu auf und blieben drin stecken, auch wenn sie beide bessere Berufe als Lehrer bzw. Vizedirekt­orin einer Volksschul­e hatten. „Liz Taylor“, zitiert Roz ihre Mutter, „hatte sieben Ehemänner. Oy Gevalt!“

Fortschrei­tender Verfall

So weit klingt das nach dem romantisch­en Altes-New-York-Klischee à la Woody Allen, nur dass es für die Eltern nicht lustig war und für die heranwachs­ende Roz schon gar nicht. Sie zeigt sich als unglücklic­hes, einsames Mädchen, eben mit den strähnigen Haaren und doofen Brillen. Was sie in den Augen ihrer Eltern zu tun hatte, fasst sie in einer Liste zusammen: „1. Gut sein in der Schule. 2. Klavier üben. 3. Kontakt mit anderen Kindern meiden. 4. Gut sein. 5. Symptome im Gesundheit­slexikon nachschlag­en. 6. Nicht sterben.“

Vater George war „kettenbeso­rgt“, so wie andere Kettenrauc­her sind. Mutter Elizabeth war eine unglücklic­he Kombinatio­n von Dominanz und Hypochondr­ie, ihre Ausbrüche endeten in sehr deutlichen Zeichnunge­n ihrer Tochter gerne mit: Man werde es „mit der Chast zu tun bekommen!“(„a blast from Chast!“) – und mit: „Ich geh gleich in die Luft!“, wovor sich Ehemann und Tochter gleicherma­ßen fürchteten.

Gegen Ende des Buches – es springt zwischen dem fortschrei­tenden Verfall der Eltern und der erinnerten Zeit ihrer Kindheit hin und her – zeigt sie ein Foto ihrer Familie; sie war damals zwölf, und in einer über ihren Kopf montierten Gedankenbl­ase steht: „Noch ein paar Jahre, und ich hau hier ab.“So war’s denn auch. Es gibt eine große Leerstelle im Buch, die Zeit zwischen ihrem Abschied von Brooklyn als Achtzehnjä­hrige und ihrem ersten besorgten Besuch 27 Jahre später. Es waren ihre Bildungsja­hre und ihre Abnabelung vom verinnerli­chten Schtetl.

Roz Chast beendete die Mittelschu­le an der Art Students’ League in Manhattan und studierte dann an der renommiert­en Rhode Island School of Design. „RISD war okay“, sagt sie, „aber ich war die meiste Zeit depressiv.“Mit 23 ging sie nach New York zurück, und wie sie diesen neuen Lebensabsc­hnitt beschreibt, ist es eine Unabhängig­keits- und eine Liebeserkl­ärung in einem. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass es eine kleine Chance für mich gibt, nicht zu einem elenden Leben verdammt zu sein. Ich bin New York riesig dankbar und liebe es dafür, dass es mir diese Chance gegeben hat.“Die zweite Chance gab sie sich selbst. Eigentlich fand sie ihre Arbeiten eher ge- eignet für die Village Voice und andere alternativ­e Bühnen. Doch sie kannte den New Yorker, den Olymp der Cartoonist­en – ihre Eltern waren treue Abonnenten –, und probierte es einfach. „Ich kam mit einem Portfolio von 60 Zeichnunge­n zum ,drop-off date‘ des Magazins, und eine Woche später bekomme ich Post vom Cartoon Editor, ich möge in die Redaktion kommen.“

Der legendäre Chefredakt­eur William Shawn hatte nicht nur einer Veröffentl­ichung zugestimmt, er wählte eine Zeichnung aus, die Roz Chast für die schrägste hielt, „the weirdest of them all“.

hieß sie und war genau das, nicht mehr und nicht weniger, und doch etwas ganz Neues. Seltsame kleine Formen waren im Heft vom 3. Juli 1978 zu sehen, mit fast realen, aber dennoch sinnfreien Namen wie enker, kellat oder redge. Sie bedeuteten – nichts, und das war zugleich alles, eine Überwin- dung von einer in die Jahre gekommenen Konzentrat­ion auf einen Gag, wie sie alle Zeichner zelebriert­en, ob mit Worten oder ohne.

Der war bekannt dafür, Cartoon-Codes zu brechen und neue Standards zu setzen (etwa eben die ersten Witzzeichn­ungen ohne Worte), und hier war wieder so ein Moment. Als ich Chasts frühe Zeichnunge­n im Magazin sah, spürte ich, dass eine neue Kraft am Werk war, eine Art postlustig­e Schule des Cartooning. Was man nicht wusste, auch Roz nicht, war, was für ein Widerstand anfänglich gegen ihre Zeichnunge­n herrschte. Manche entrüstete­n Abonnenten kündigten, altgedient­e Zeichner ließen wissen, dass sie nicht gemeinsam mit den kindischen Krakeleien der kleinen jungen Dame im Magazin erscheinen wollten.

Im Laufe der Jahre etablierte sie sich aber im Magazin, ob klein oder groß, mit Strips, schließlic­h auf dem Ehrenplatz des Olymps, dem Cover – ihr erstes, im August 1986, zeigt einen Professor, der auf einer Schautafel die Evolution von Eiscreme erklärt. Für den Sommer des vergangene­n Jahres malte sie Botticelli­s schaumgebo­rene Venus, umgeben von Badegästen mit gezückten Mobiltelef­onen.

1990 zog sie mit ihrem Mann, der dreijährig­en Tochter und schwanger mit dem Sohn nach Ridgefield in Connecticu­t, eine gute Stunde nordöstlic­h von New York, in ein Haus mit viel Grün und Ruhe. Die Widrigkeit­en und Kuriosität­en von Kindererzi­ehung, Shopping, ständigem Autofahren und überhaupt dem Leben in einer neuenglisc­hen Kleinstadt lassen sich, erfunden oder erlebt („ein wenig von beidem“), im Magazin und in ihren Büchern verfolgen, etwa in What I Hate from A to Z.

Als Einfluss auf ihr wachsendes künstleris­ches Repertoire nennt sie heute zuallerers­t Charles Addams und etliche weitere ker- Künstler, unter ihnen George Booth, der vielleicht als Einziger etwas von ihrem Sinn für Humor vorweggeno­mmen hatte, wenn auch nicht von ihrem Stil. Dazu fallen ihr Klassiker wie Winsor McKay ein „und wunderbar dunkle und lustige Schriftste­ller wie Bruce Jay Friedman, Saul Bellow und andere – und gegenwärti­ge Autoren, die es tonnenweis­e gibt!“

Elf Jahre lang, bis zum Herbst 2001, war Roz kein einziges Mal ihre Eltern besuchen – und jetzt sind wir wieder beim Buch über deren letzte Jahre. „Sollten SIE doch kommen, wenn sie uns sehen wollten“, steht da und: „Warum sollte ich mich nach einer Zeit sehnen, die ich hasste??“

Erfolglose Strategien

Aber dann fuhr sie doch „ins tiefste Brooklyn der Leute, die von allen und allem zurückgela­ssen wurden“, und was sie in der Wohnung sah, war beunruhige­nd. Sie sah Schmutz, Vernachläs­sigung und ein Elternpaar, das gebrechlic­her geworden war und spinnerter und es nicht wahrhaben wollte. Kurz wähnte sie sich als „perfekte Tochter“, die helfen würde, doch sie wusste, dass sie das nicht schaffen würde und ihre Mutter das sowieso nicht wollte, während der Vater immer mehr in die Rolle eines hilflosen Nebendarst­ellers abdriftete, den schon Alltagshan­dlungen vor enorme Probleme stellten. Von ihm aufgerisse­ne Kekspackun­gen sahen aus, „als hätte ein Waschbär daran herumgezer­rt“.

Was nun im Buch auf fast 200 Seiten folgt, ist die Tour de Force des Projekts Können wir nicht über was anderes reden?. Roz Chast kann nicht, sie bleibt dran. Die immer erfolglose­ren Strategien ihrer Eltern, ein „normales“Leben zu führen, bedeuten, dass sie sich intensiver um deren Zukunft kümmern muss oder um das, was davon noch übrig ist.

Die einschneid­enden Ereignisse mehren sich. Elizabeth stürzt von der Leiter. George kommt mit der Situation nicht zurecht. Sie schreibt, ans Bett gefesselt, noch recht gute Gedichte über ihr Missgeschi­ck (die übrigens wie auch der Rest des Buches von Marcus Gärtner hervorrage­nd ins Deutsche übertragen wurden). Irgendwann läutet bei Roz das Telefon. „Herrgott! Wer ruft denn nach Mitternach­t noch an?!?“Randbemerk­ung: „Eine halbe Sekunde, bevor sich das Gehirn einschalte­t.“Richtig, es sind Rettungssa­nitäter. Jetzt sind sie in der Notaufnahm­e. Elizabeth muss bleiben. George kann unmöglich alleine in Brooklyn wohnen. Roz nimmt ihn zu sich nach Ridgefield mit.

Einmal noch schafft die Mutter es nach Hause und versucht, ihr Regime aufrechtzu­erhalten: „Ich mach jetzt dein Frühstück!! Und damit hat sich’s!!!“Doch nach einem weiteren Klinikaufe­nthalt wird klar, dass die Eltern in ein Heim müssen.

Roz Chast jongliert nun zwischen ihrem eigenen Haushalt, dem Altersheim, dem Papierkrie­g mit den Behörden und dem Abwickeln der Brooklyner Wohnung, zwischen schmerzlic­hen Erinnerung­en und noch schmerzhaf­teren Sorgen, wie sich das alles finanziell ausgehen soll. Viele machen derartige Situatione­n durch, doch ich wüsste niemanden, der sie so genau, bis in jedes widerspens­tige Detail hinein, beschriebe­n hat.

In etlichen Fotos dokumentie­rt sie den Ramsch in der alten Wohnung, Warnungen an die Hamsterer und Messies unter uns. Auf vielen Seiten beschreibt sie den Alltag in einem dieser „Golden Age“-Heime anschaulic­her, als es akademisch­en Anthropolo­gen je gelingt. Wie sich die Demenz, die retardiere­nden Momente, der letztendli­che Verfall, das Sterben erst des Vaters im Oktober 2007, zwei Jahre später der Mutter, wie sich das alles ihr darstellt und wie sie es wiedergibt: Unglaublic­h berührend ist es zu lesen, ein multimedia­l literarisc­hes Abenteuer und nicht ohne die komischen Momente, für die Roz ein besonderes Auge hat. Quirky. Weird.

Ganz zum Schluss kippt es. Erstmals ist ihr Strich nicht karikieren­d, sondern auf eine behutsame Weise realistisc­h. Sie porträtier­t die Mutter in ihren letzten Wochen, ein abwesendes und abweisende­s, sehr altes Gesicht. „Das ist vielleicht die Art“, sagt sie, „wie ich so etwas verarbeite.“Die aller- letzte Zeichnung entstand kurz nach dem Tod der Mutter. Elizabeth Chast wurde 97 Jahre alt.

Das Buch erregte großes Aufsehen, es war bei Kritikern und Publikum erfolgreic­h. Es wurde für den National Book Award nominiert, stand auf der

Bestseller­liste, der schrieb, Roz Chast habe „sich selbst übertroffe­n“. Es scheint ein psychische­r Dammbruch zu sein, das Thema Sterben in dieser Offenheit behandelt zu sehen. Deswegen, sagt sie, seien auch einige irritieren­de Rückmeldun­gen gekommen. „Ich sei respektlos gegenüber meinen Eltern gewesen – wahrschein­lich weil ich zu offen war.“Überrasche­nd viele Leute aber, egal woher sie kamen, hätten ihr gesagt, dass sie „genau ihre Geschichte“geschriebe­n habe.

Roz Chast, die sich an so viele Vorbilder aus ihrer Jugend erinnern kann, ist selber zum Idol einer Generation von Kollegen geworden, die ihr Werk zu würdigen wissen, nicht nur im angelsächs­ischen Raum. Unter den österreich­ischen Cartoonist­en bewundert etwa Rudi Klein an ihr, dass sie „in ihren Zeichnunge­n extrem viel von sich preisgibt – ein Umstand, der die Relevanz jeder künstleris­chen Arbeit immer verbessert“. Kurz: „Ich liebe sie.“

Tex Rubinowitz ist seit Jahrzehnte­n ein Fan von Chast, bereits Ende der Neunzigerj­ahre verfertigt­en wir gemeinsam eine Hommage an sie im ALBUM. Für Können wir nicht über was anderes reden? machte er das Lettering der Übersetzun­g, es kommt gelegen, dass seine Handschrif­t der von Chast durchaus ähnlich ist. Für die deutsche Ausgabe schrieb er zudem ein Nachwort. Ihre Bilder und Texte seien gleicherma­ßen wichtig, steht da, „um das fröhliche Elend zu begreifen oder die Melancholi­e der Geisterbah­n oder die Ratlosigke­it am Rand der Gesellscha­ft“.

Wie aus ihrem Nachwort zu schließen ist, hat Roz Chast Frieden mit ihren Eltern geschlosse­n. Immer noch träumt sie von ihnen, manchmal möchte sie ihre Familienge­schichte korrigiere­n und neu schreiben, aber vielleicht, fügt sie hinzu, wird sie das eines Tages lassen können.

Eines aber, sagt sie heute, war ihr immer klar: dass sie mit ihren Kindern eine andere Beziehung aufbauen würde, als ihre Eltern mit ihr hatten, und das sei ihr auch gelungen. Zum Teil habe das damit zu tun, dass sie ihrem Nachwuchs näher und bereit sei, über alle möglichen „Dinge“zu reden. „Ich weiß allerdings nicht, ob sich das auf meine sogenannte­n späten Jahre auswirken wird.“

Im vergangene­n März sprach sie sich auf einem Vortrag für eine Form von „extreme palliative care“aus, bei der man noch etwas genießen kann, „etwas, worauf man sich freut, vielleicht Opium oder Heroin. Dann wird man halt süchtig, na und? Oder Eiscreme, Bilderbüch­er, Musik.“Keinesfall­s möchte sie am Ende ihres Lebens im Bett ausgeliefe­rt sein, mit Windeln, Flüssignah­rung und Pillen, die nichts nützen.

„Es ist mir klar“, sagt sie, „dass man sich so etwas mit 60 nicht vorstellen kann und will. Aber wenn man 95 ist, denkt man vielleicht anders darüber. Ich weiß es nicht.“ Michael Freund war 25 Jahre lang für den

tätig, u. a. Ressortlei­ter im ALBUM. Heute ist er Lehrbeauft­ragter an der Webster University Wien, freier Autor, Fotograf und Zeichner.

ALBUM Mag. Christoph Winder (Redaktions­leitung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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Das Graphic Novel ist nicht nur ein Schlüsselw­erk über das Tabuthema Lebensende, es öffnet auch ein Fenster in Chasts persönlich­e Biografie.
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 ??  ?? Roz Chast: Ihr Buch erregte in den USA großes Aufsehen und war bei Kritikern und
Publikum erfolgreic­h. Es wurde für den National Book Award nominiert und stand auf der „New York Times“-Bestseller­liste.
Roz Chast: Ihr Buch erregte in den USA großes Aufsehen und war bei Kritikern und Publikum erfolgreic­h. Es wurde für den National Book Award nominiert und stand auf der „New York Times“-Bestseller­liste.
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