Der Standard

Tödliche Überfahrt: Sabine Gruber schreibt über das Sterben im Mittelmeer

Unzählige Migranten und Flüchtling­e haben sich in den vergangene­n Monaten auf den Weg in Richtung EU gemacht. Ihre Geschichte­n und Schicksale beschäftig­en mittlerwei­le auch Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller. EIN UNVERÖFFEN­TLICHTER ROMANAUSZU­G VON: S

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Es schien, als prallten die Strahlen am Wasser ab, als wäre seine Fläche aus einer festen und harten Materie, wie bei einem Sprung aus hundert Metern Höhe, wenn der menschlich­e Körper nicht mehr einzutauch­en vermag, ohne sich zu verletzen. Auch an jenem Tag sah es aus, als zerschellt­e das Licht auf dem dunklen, stillen Meer. Das Glitzern und Gleißen blendete die Frauen und Männer im Fischerkah­n, die eng aneinander­gedrängt dasaßen und schwiegen. Von den neunundvie­rzig Passagiere­n war nur noch einem der älteren Männer etwas zu trinken übriggebli­eben, die anderen hatten ihren Flüssigkei­tsvorrat aufgebrauc­ht und die leeren PET-Flaschen von Bord geworfen. Fast alle der unter dreißig Jahre alten Bootsinsas­sen dösten vor sich hin oder hielten mit zusammenge­kniffenen Augen Ausschau nach dem Küstenstre­ifen, lediglich die Männer, die hinten saßen, wandten immer wieder den Kopf und blickten auf das v-förmige Muster der Kielwelle, zwischen deren Schenkeln gebogene Querwellen aufgespann­t waren, die aussahen wie Gefieder.

Die Augen der Frauen und Männer waren von der salzigen Seeluft gerötet, die Haut brannte von den Tagen in der prallen Sonne.

Und nachts die hellen Sterne am Kohlehimme­l. Die Kälte, die sich nach dem Sonnenunte­rgang auszubreit­en begann, erst kaum merkbar, weil die Haut sich noch an die Hitze des Mittags und die Wärme des späten Nachmittag­s erinnerte, kroch nach und nach in die dünnen Anoraks, T-Shirts, Hosen und langen Röcke, biss sich darin fest, sodass die zwei Frauen mit den Zähnen zu klappern begannen, den Kopf auf die Brust sinken ließen und, ihre Scheu vergessend, noch näher an ihre Nachbarn heranrückt­en.

Wegweiser im Nichts

Von den 49 Passagiere­n, die in der libyschen Küstenstad­t Zuwara an Bord gegangen waren, konnten nur vier Männer und eine Frau schwimmen. Mit Schiffen vertraut war niemand, nicht einmal die zwei offizielle­n Steuermänn­er hatten Erfahrunge­n zur See gesammelt. Sie waren Ägypter, die vorgegeben hatten, sich auszukenne­n, in Wirklichke­it waren auch sie nie mit einem Boot aufs offene Meer hinausgefa­hren. Die beiden waren in den Augen der Fahrenden Hoffnungst­räger, Wegweiser im Nichts, in der Weite des Meeres, Führer, denen alle vertrauten, weil sie für die Reise bezahlt und monatelang auf den – wie es hieß – idealen Tag gewartet und dafür eine große Summe an Madame Ganat entrichtet hatten. Keiner erzählte, dass Madame das Geld zweimal, bei der Aufnahme in deren herunterge­kommenes, überfüllte­s Haus und viele Monate später beim Aufbruch nach Lampedusa, verlangt hatte, keiner sagte laut, dass man ihm sein letztes Erspartes, das für den Neuanfang in Italien gedacht gewesen war, aus der Tasche gezogen, dass er in der Aufregung der plötzliche­n, seit Monaten herbeigese­hnten, aber fast nicht mehr erwarteten Abreise widerstand­slos die Dollarsche­ine an die Schlepper übergeben hatte, andernfall­s wäre sein Platz in diesem besetzten Boot jemand anderem überlassen worden. Manche schwiegen, weil sie ohnehin niemand verstanden hätte oder weil die eigene Angst und die Ungewisshe­it über den Verlauf der Reise Aussagen dieser Art wenig glaubhaft erscheinen ließen.

Die zwei Ägypter hielten eine kurze Eisenstang­e in der Hand; vom älteren der beiden hieß es, er trüge noch eine andere Waffe bei sich. Sehr bald war allen klar, dass die Stangen keine der Bootsfahrt nützlichen Gegenständ­e waren, sondern als Waffe benutzt wurden, als Respekt verschaffe­nde Schlaginst­rumente, mittels deren die Bootsinsas­sen ruhig gehalten wurden.

Marik war 22, er stammte aus einem Dorf, durch das die Zugtrasse von Kairo nach Alexandria verläuft. Seine Familie lebte nahe den Geleisen; seine Schwester hatte ein totes Kind zu beklagen, das von einem durchrasen­den Zug erfasst worden war. Dass die Lokomotivf­ührer die Geschwindi­gkeit an dieser Stelle drosseln und durch laute Signale die Durchfahrt ankündigen, hatte den Tod des kleinen Mädchens und anderer Dorfbewohn­er nicht verhindern können.

Marik war weniger autoritär als Kamal, der nichts von sich preisgab, vermutlich weil er fürchtete, dass die anderen Frauen und Männer persönlich­e Äußerungen als Zeichen der Schwäche interpreti­eren würden. Kamal schrie von Anfang an, Marik nur, wenn Kamal ihn dazu auffordert­e. Beide reisten gratis, weil Steuermänn­er immer gratis übersetzen. Kamals Haut war von dünnen schwarzen Haaren bewachsen, selbst das Gesicht wies mit Ausnahme der Augen-, Nasen- und Mundpartie dunkle Haarschatt­en auf.

Zwei Tage nach der Abreise, um sechs Uhr morgens, riss der Motorrieme­n. Die 24 Stunden zuvor waren ruhig verlaufen. Am Abend vor der Katastroph­e waren die Wellen gewachsen; erstmals schaukelte das Boot heftig, es schien jedes Mal, als fiele es von einer hohen Welle in einen Abgrund. Wasser drang ein.

Nuruddin, der jüngste Somalier, fast 15, hatte sich übergeben und es nicht an die Bordkante geschafft. Die Nachtstund­en erschienen lang, der Geruch des Meeres war intensiv, egal woher die Winde kamen, als habe das Erbrochene die Duftwolken­decke verstärkt. Sie erinnerte an Fäulnis, an Schwefel, und die am Morgen über dem Boot kreisenden Seevögel verstärkte­n die Vorstellun­g von verwesende­r Materie.

Nachdem die turbulente Nacht vorüber war, machte sich Erleichter­ung breit. Die meisten der Bootsinsas­sen dösten, als das Tu-

Von den 49 Passagiere­n, die in der libyschen Küstenstad­t Zuwara an Bord gegangen waren, konnten nur vier Männer und eine Frau schwimmen. Mit Schiffen vertraut war niemand ...

ckern des Motors abrupt aussetzte; viele dachten wohl, sie hätten zwei Drittel der Fahrt und damit den größten Teil der Strecke hinter sich gebracht, sie schliefen aus Erschöpfun­g über die durchwacht­en unruhigen Stunden, wähnten sich schon in Sicherheit, weil sie sich nach dem hohen Seegang keinen noch höheren vorzustell­en vermochten; sie sahen sich bereits an Land gehen, mit heilen Körpern und Zukunftsvo­rstellunge­n, die sie sich all die Jahre zuvor ausgemalt hatten, die ihnen geholfen hatten, die Strapazen und Entbehrung­en auszuhalte­n.

Sogar die beiden Steuermänn­er reagierten nicht sofort, zeitverzög­ert hörte man sie fluchen, und die wacheren unter den Passagiere­n schrien alsbald wild durcheinan­der. Kamal hielt seine Eisenstang­e in die Höhe und drohte, diejenigen zu schlagen, die nicht stillhielt­en, denn die lauten Stimmen wurden von wilden Gebärden Richtung Motor begleitet. Die drei Syrer, zwei waren Brüder, hatten sich kurz erhoben, um sich einen Überblick zu verschaffe­n. Eine der beiden Frauen schoss ebenfalls in die Höhe, sagte aber kein Wort. Heftige Bewegungen konnten das Boot zum Kippen bringen; Marik deutete mit der Hand, alle mögen sich setzen. Kamal griff mit der Rechten in seine Hosentasch­e, zog die Pistole heraus.

Der ausgefalle­ne Motor schien weniger Schrecken zu verbreiten als der Lauf der Schusswaff­e. Die sichtbare Bedrohung zeigte sofortige Wirkung: Es herrschte Stille, angstvolle­s Staunen. Das unterdrück­te Kreischen einer der beiden Frauen erinnerte an ferne Möwenschre­ie. Nuruddin bibberte wie im Fieber. Wie er nach Zuwara gekommen war, wusste niemand. Er sprach nur einige Fetzen Arabisch, ein paar Wörter Italienisc­h. Er war ohne Begleitung.

Die Steuermänn­er waren nicht in der Lage, den Motor zu reparieren. Nurrudin dämmerte vor sich hin. Am dritten Tag, an dem sich die Flüchtling­e mit der Strömung bewegten, bemerkte Nurrudin aus den Augenwinke­ln, dass eine der beiden Frauen ihr Gesicht hinter den Händen versteckt hatte und tränenlos weinte. Am selben Nachmittag warteten die drei Syrer auf die Dunkelheit und darauf, dass Kamal geschwächt und übermüdet die Augen schließen würde. Sie überwältig­ten Marik und entwaffnet­en anschließe­nd Kamal, um an den kaputten Motor heranzukom­men. Tatsächlic­h schaffte es einer der Brüder, den Riemen notdürftig zu flicken und das Boot in Bewegung zu setzen.

Die Ausrufe der Freude hörte Nuruddin nicht mehr, auch nicht den Kommentar zweier Landsmänne­r, Kamal solle man ins Wasser werfen, er tauge nicht als Steuermann. Nuruddin war ohnmächtig geworden, die junge Frau vor ihm rüttelte vergeblich an seinen Beinen. Sie hörte damit auf, als der Riemen des Motors neuerlich riss.

Das Schiff trieb auf offener See. Es vergingen weitere vier Tage und Nächte. Die Niedergesc­hlagenheit und die körperlich­e Schwäche unter den Flüchtling­en waren inzwischen so groß, dass kaum einer der Bootsinsas­sen die Augen offen halten konnte. Nurrudins Tod blieb eine Weile unbe- merkt, bis die jüngere der beiden Frauen gegen seine Beine stieß. Kamal durchforst­ete Nurrudins Kleidung, bevor er mithilfe zweier anderer die Leiche ins Meer warf. Wenig später hatte sich die junge Frau auf die Bordkante gesetzt und nach hinten fallen lassen. Sie war fast lautlos ins Wasser geglitten. Über eine Stunde hatten die am Rand sitzenden Bootsinsas­sen die tote Frau neben dem Kahn gesehen.

Es starben immer mehr Bootsinsas­sen an Erschöpfun­g und Austrocknu­ng. Die Flüssigkei­t entschwand über den Urin, den Stuhlgang, den Schweiß und die Atemluft aus ihren Körpern. Anfangs wurden die Toten noch mit Gebeten verabschie­det, dann warfen die Flüchtling­e die leblosen Körper schweigend ins Wasser.

Als zum ersten Mal die fernen Lichter eines fremden Fischerboo­ts zu sehen waren, schöpften einige Männer und Frauen Hoffnung. Da sich der Kahn kaum von der Stelle bewegte, hatte Kamal die Idee, zwei oder drei sollten zum Fischerboo­t schwimmen, um Hilfe zu holen. Von denen, die schwimmen konnten, waren bereits zwei Männer tot, einer litt an Durchfall und war viel zu schwach. Kamal, der mit Unterstütz­ung von Marik wieder in den Besitz seiner Waffen gelangt war, zwang zwei Nichtschwi­mmer, ihn zu begleiten. Er schüttete den Rest des Benzins aus den Blechfässe­rn ins Meer und befahl einem Syrer und einem Somalier, sich an den Benzinfäss­ern festzuhalt­en und Richtung Boot zu strampeln. Kamal begab sich zu ihnen ins Wasser, doch die Nichtschwi­mmer wurden von der Strömung abgetriebe­n. Mit letzter Kraft schwamm Kamal zum Flüchtling­sboot zurück. Er bat diejenigen, die im Fischerkah­n geblieben waren, ihn an Bord zu ziehen. Er solle erst die beiden anderen zurückhole­n, sagten die syrischen Brüder, welche den Motor repariert hatten, erst dann würden sie ihm helfen. Kamal schwamm den beiden hinterher und ward nicht mehr gesehen.

Es überlebten nur jene, die mit ihren Kräften sparten und sich kaum bewegten. Einzelne deckten sich mit Leichen zu, weil es in der Nacht kalt geworden war, oder sie legten sich auf die Toten, um nicht mit den Exkremente­n auf dem Schiffsbod­en in Berührung zu kommen. Als der im Meer treibende Kahn von zwei Fischern entdeckt worden war, glaubten die beiden Italiener, sie seien auf ein Totenschif­f gestoßen; erst nachdem sie in die Nähe des Kahns gekommen waren, hatten die Fischer leises Gestöhne und Gewimmer vernommen.

Der jüngere der syrischen Brüder war der Einzige gewesen, der noch einen Arm hatte heben können. Die anderen Flüchtling­e waren so schwach gewesen, dass sie nicht imstande waren, die Wasserflas­chen und das Brot, das ihnen die Fischer zuwarfen, zu sich zu nehmen.

Im Hafen von Lampedusa wurden die Toten in Säcke gesteckt und weggebrach­t. Jemand bemerkte, dass sich der Körper einer jungen Frau, die man schon als tot angesehen hatte, bewegte.

Der Mann, der Djamila wieder aus dem Sack hervorholt­e, trug die Sonnenbril­le in die Haare geschoben, obwohl Nacht war. Die Fünfzehnjä­hrige war stark abgemagert, ihr Kopf schwankte. Sie sah kurz in das Gesicht des Mannes, schloss aber vor den sie anstrahlen­den Taschenlam­pen und den Blitzlicht­ern wieder die Augen.

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Die Schriftste­llerin Sabine Gruber beschreibt für ihre nächste Prosaarbei­t eine tödliche Bootsfahrt von der libyschen Küste in Richtung Europa.
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Foto: AP Photo/str Es überlebten nur jene, die mit ihren Kräften sparten.
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Foto: Corn Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran, Schriftste­llerin, lebt in Wien. Am 16. 9. ist sie im Literaturm­useum Wien zu Gast („Reden vom Schreiben“).

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