Der Standard

71 tote Flüchtling­e auf A4: Erstickung­stod schon in Ungarn

Über 100.000 illegale Grenzübert­ritte hat die Agentur Frontex im ersten Halbjahr 2015 auf der Westbalkan­route gezählt. Der Exodus so vieler Menschen ist ein einträglic­hes Geschäft – nicht nur für Schlepper.

- ANALYSE: Aloysius Widmann, Markus Hametner, Michael Bauer

Wien – Beim Flüchtling­sdrama mit 71 toten Menschen auf der A4 geht die Polizei davon aus, dass die Flüchtling­e bereits in Ungarn im luftdichte­n Kühlwagen erstickt sind. Der Lenker befindet sich unter den Festgenomm­enen.

Die Ermittler sind einem bulgarisch­en Schlepperr­ing auf der Spur: Am Tag nach dem Drama sind in einem Lkw gleicher Bauart von derselben Tätergrupp­e 81 Flüchtling­e nach Österreich gebracht worden, die sich gerade noch selbst aus dem Wagen retten konnten. Die Bande soll neun Lkws besitzen.

In Ungarn spitzte sich am Freitag die Lage zu: Tausende Flüchtling­e marschiert­en zu Fuß von Budapest Richtung Österreich. (red)

Die Geschichte ist vielerorts dieselbe: Vater und Mutter verabschie­den sich von ihrem jungen Sohn, stecken ihm noch ein letztes bisschen Geld zu und winken dem Geländewag­en hinterher, der ihn vermeintli­ch sicher in den Westen bringt. Dafür haben sie schließlic­h gezahlt – etwa 7000 Euro.

Rund 17 Prozent der 28.065 Asylanträg­e in Österreich im Jahr 2014 stammen von minderjähr­igen Flüchtling­en. Viele wurden geschleppt. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie viele nicht ankamen und die gefährlich­e Reise mit ihrem Leben bezahlten. Denn was die Eltern nicht wissen: Die meisten Schlepper sind keine ehrlichen „Begleiter“ihrer Kinder, sondern beinharte Geschäftem­acher.

Illegale Organisati­onen sind aber nicht die Einzigen, die an den Flüchtling­sströmen verdienen. Je fester Grenzen abgeriegel­t werden, je intensiver nach Schleppern gefahndet wird, aber auch je mehr Flüchtling­e in Europa unterzubri­ngen sind, umso größer sind die Möglichkei­ten für Private, an der Flüchtling­skrise zu verdienen.

„Helfen“aus Profitgier

Rund 1,6 Milliarden Euro wurden zwischen 2010 und 2014 für Schlepperd­ienste auf der Westbalkan­route ausgegeben, schätzt Migrants Files, ein internatio­nales Journalist­enkollekti­v, das fortlaufen­d die Kosten der EU-Grenzpolit­ik untersucht.

Die Westbalkan­route führt von der Türkei über Griechenla­nd, Mazedonien und Serbien ins Schengenge­biet. Im Durchschni­tt drei Wochen lang dauern die vielen kleinen, aber gefährlich­en Etappen der Reise. Oft stehen lange Märsche an, manchmal müssen die Flüchtling­e Tage in Lastwagen verbringen, dazwischen können Etappen mit dem Zug oder in Privatauto­s befahren werden. Schlepper sind dabei in einem Netzwerk von Kontakten organisier­t. Die einzelnen Unterkunft­geber oder am Transport beteiligte­n Personen agieren oft auf eigene Rechnung. Durch Hintermänn­er, die das große Geld machen (und selten gefasst werden), bekommen sie Aufträge.

Flüchtling­e kommen auf der Reise mit vielen Personen in Kontakt, die ihnen auf der Flucht helfen – die meisten aus Profitstre­ben, manche aus Menschlich­keit. Ein Beispiel: Ein ortskundig­er Bauer zeigt einen unbewachte­n Übergang über den Evros, auf der anderen Seite wartet ein Taxifahrer, der die Flüchtende­n bis zur mazedonisc­hen Grenze bringt, ein Grenzposte­n drückt gegen Geld ein Auge zu, und so weiter ...

Von der Türkei nach Österreich zu gelangen kostet Flüchtling­e zwischen 800 und 9000 Euro, hat Migrants Files aus Medienberi­chten erhoben. Am billigsten ist ein Platz in einem Container, am teuersten ist eine Reise mit einem Auto. Wer Englisch kann oder über Ortskenntn­is verfügt, kann die Route auch ohne Hilfe bewältigen. Die Reise wird dann billiger: Mit nur 500 Euro kam ein junger Mann aus Pakistan bis nach Deutschlan­d, weil er aktuelle Nachrichte­n zu Problemen und Grenzkontr­ollen verstand und darauf reagieren konnte ( der STANDARD berichtete).

Der Preis der Abschottun­g

Je schwierige­r die Grenzübert­ritte sind, desto teurer wird die Schleppere­i. Dieses Prinzip gilt aber auch umgekehrt, aus der Sicht derer, welche die „Festung Europa“bewachen: je florierend­er und trickreich­er die Schleppere­i, desto besser das Geschäft von Rüstungsko­nzernen, Sicherheit­sfirmen und Baufirmen, die Grenzbefes­tigungen herstellen. 3,16 Millionen Euro hat Griechenla­nd in die Befestigun­g eines 12,5 Kilometer langen Grenzstück­s zur Türkei investiert. Bulgarien hat 30 Kilometer seiner Grenze zur Türkei eingezäunt – für 4,6 Millionen Euro. Am schärfsten hat Ungarn reagiert. Insgesamt 94 Millionen Euro wurden für den jüngst fertiggest­ellten Grenzzaun budgetiert, der 175 Kilometer an der Grenze zu Serbien abriegelt.

Die EU hat ebenfalls viele Millionen in die Sicherung der Außengrenz­en investiert. Ein Programm um 6,5 Millionen Euro soll illegale Migrations­ströme im östlichen Mittelmeer kontrollie­ren und bekämpfen. Eine Landmissio­n auf dem Südbalkan kostet rund 2,6 Millionen. Die EU unterstütz­t auch die Modernisie­rung der Grenzwächt­er-Ausrüstung­en. Damit erhöht sich das Risiko der Schlepper, erwischt zu werden – und somit erhöhen sich die Preise für die Flüchtling­e.

Stellt ein Flüchtling im Zieloder Aufgriffsl­and einen Asylantrag, beginnt sein Asylverfah­ren. In Österreich gilt: Anfangs muss er in eines der Erstaufnah­me- oder Verteilerz­entren, etwa nach Traiskirch­en. Diese werden von der ORS Service GmbH, der österreich­ischen Tochter eines Schweizer Unternehme­ns, betreut. Im Jahr 2013 betrug die Bilanzsumm­e von ORS noch 5,8 Millionen Euro. Laut Angaben des Innenminis­teriums gingen 2014 für Dienste an mehreren Betreuungs­stellen bereits 21 Millionen an ORS, welche weitere Subunterne­hmer beauftragt­e: Die Firma Siwacht etwa übernahm von ORS den Sicherheit­sdienst in Traiskirch­en. Das Auftragsvo­lumen ist nicht bekannt.

Nach Aufnahme des Asylverfah­rens sollten Asylwerber in ein Quartier kommen, das von den Bundesländ­ern organisier­t wird. Die Quartiere werden oft von Privaten betrieben, für 19 Euro pro Asylwerber und Tag für Unterkunft und Verpflegun­g – was, wenn überhaupt, nur die Kosten deckt. Minderjähr­ige müssen stärker betreut werden, für sie sind höhere Tagessätze vorgesehen. Die Qualität der Unterbring­ung schwankt, immer wieder gibt es Missstände, weil Quartierge­ber oft nicht einmal das Notwendigs­te in die Unterbring­ung investiere­n. Die Betreiber von Asylheimen bekom- men zehn Euro pro Flüchtling und Monat für die Organisati­on von Freizeitak­tivitäten. Oft werden dafür Deutschkur­se organisier­t. Vor dem Sommer mussten wegen Platzmange­ls zusätzlich­e Quartiere geschaffen werden – für 2000 Euro pro Zelt und 1200 Euro pro Container. 2015 gab der Staat zwölf Millionen Euro für die Miete und Aufstellun­g der Container aus.

Die Wartezeit, bis ein Asylantrag angenommen oder abgelehnt wird, beträgt durchschni­ttlich 4,2 Monate – Tendenz steigend.

Teure Abschiebun­gen

Wird ein Asylantrag negativ beschieden, folgt die Aufforderu­ng, Österreich zu verlassen. Das Innenminis­terium unterstütz­t freiwillig­e Rückkehrer finanziell. 2014 waren das 3000 Personen, die Kosten dafür beziffert das Innenminis­terium mit 1,14 Millionen Euro. Im Jahr 2015 verzeichne­t das Innenminis­terium bereits 2431 freiwillig­e Ausreisen.

Wer nicht freiwillig geht, kann bis zu seiner Abschiebun­g in Schubhaft genommen werden. Das Schubhaftz­entrum Vordernber­g fasst bis zu 200 Personen. Deren Betreuung wurde für mindestens 16 Jahre an das Sicherheit­sunternehm­en G4S ausgelager­t. Viel kritisiert wurde, dass das Sicherheit­sunternehm­en nicht einmal die Bewachung selbst durchführt – sondern nur für Dienste wie Kochen, Putzen und Verwaltung zuständig ist. Allerdings zu einem fürstliche­n Preis: 86 Millionen Euro berappt die Republik für die Dienste von G4S.

Von Jänner bis Juni wurden 2015 1705 Abschiebun­gen durchgefüh­rt. Die Kosten für den Staat: über 540.000 Euro. Abschiebun­gen per Flugzeug kosten laut Innenminis­terium etwa 1000 Euro pro Person. Auch Rückführun­gen nach dem Dublin-Abkommen sind Kostenfakt­oren.

Kaum positive Zahlen

Wer profitiert, wenn Flüchtling­e einen positiven Asylbesche­id bekommen? Es gibt kaum Studien, die sich mit den volkswirts­chaftliche­n Auswirkung­en von kriegsbedi­ngter Migration befassen.

Das Wirtschaft­sforschung­sinstitut Wifo hat jüngst im Auftrag des Sozialmini­steriums die möglichen Auswirkung­en einer Öffnung des Arbeitsmar­kts für Asylwerber errechnet. Der Studie zufolge hätte sie kaum merkbare negative Effekte auf Löhne und Beschäftig­ungsniveau der österreich­ischen Arbeitnehm­er. Einzig die Arbeitslos­igkeit würde mittelfris­tig um maximal 0,2 Prozentpun­kte steigen – und langfristi­g wieder zurückgehe­n.

Das liegt auch daran, dass Kriegsflüc­htlinge aus Nahost durchschni­ttlich höher gebildet sind als Arbeitsmig­ranten. Das Sozialmini­sterium interpreti­erte die Studie, die es selbst in Auftrag gegeben hatte, auf seine Weise: Die Lage am Arbeitsmar­kt würde sich merkbar anspannen, wenn Flüchtling­en das Arbeiten erlaubt würde, las man dort heraus.

Die Studie sieht in der Liberalisi­erung des Arbeitsmar­ktzugangs hingegen einen möglichen Gewinn für Staat und Bürger: Das Steueraufk­ommen würde erhöht, Kosten für Sozialleis­tungen reduziert sowie der Export gefördert werden.

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