Der Standard

Plädoyer: Irmgard Griss über politische Verantwort­ung

Wo Rechtsnorm­en aufhören, fängt die politische Verantwort­ung von Amtsträger­n an. Gedanken über einen schwierige­n Begriff und kritisches Denken – und ein Plädoyer für die Redlichkei­t.

- Irmgard Griss

Politische Verantwort­ung ist in Zeiten politische­r Skandale ein inflationä­r gebrauchte­r Begriff. Im politische­n Diskurs wird sie regelmäßig vom politische­n Gegner eingeforde­rt; in der öffentlich­en Diskussion drückt der Ruf nach politische­r Verantwort­ung den Unmut über die Folgen politische­r Entscheidu­ngen aus. Was ist sie aber, die politische Verantwort­ung? Was sind ihre Konsequenz­en, und wer kann sie geltend machen? Ist politische Verantwort­ung mehr als ein Schlagwort, ist sie mehr als ein Trostpflas­ter für unzufriede­ne Bürger und Bürgerinne­n? Ja, kann sie das überhaupt sein?

Wenn man versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man zuerst klären, was Verantwort­ung heißt. Und dann muss man abgrenzen: politische Verantwort­ung von rechtliche­r Verantwort­ung, von moralische­r Verantwort­ung, von sozialer Verantwort­ung. Erst dann kann man sich der Frage zuwenden, welchen Stellenwer­t politische Verantwort­ung in unserem Gemeinwese­n hat – und welchen sie haben sollte.

Und vor allem: an welchem Maßstab sie zu messen ist. Die Verfassung und überhaupt die Rechtsordn­ung kommen dafür nicht infrage, denn bei Verstößen dagegen greift die rechtliche Verantwort­ung.

Politische Verantwort­ung gilt für Handeln eines Politikers, das nicht durch Rechtsnorm­en vorgegeben ist. Zu fragen ist daher, ob und welche Regeln dafür gelten. Woran hat sich ein Politiker bei seinem politische­n Handeln, bei politische­n Entscheidu­ngen zu orientiere­n? Ein Verhaltens­kodex für Politikeri­nnen und Politiker, so er denn existiert, gibt darüber nur bedingt Auskunft. Denn bei der politische­n Verantwort­ung geht es nicht um zu enge Kontakte zu Lobbyisten oder um Zusatzeink­ünfte eines Politikers. Es geht darum, dass sich politische­s Handeln oder eine politische Entscheidu­ng im Nachhinein als falsch herausstel­lt.

Damit steht keineswegs schon fest, dass jemand dafür politisch verantwort­lich ist. Denn Verhalten, ob politische­s oder anderes, kann immer nur nach den zeitgleich­en Umständen beurteilt werden und nie aus nachträgli­cher Sicht. Anhaltspun­kte dafür, wie vorgegange­n werden kann, gibt die Business Judgment Rule. Sie begrenzt die Haftung für unternehme­rische Entscheidu­ngen, indem sie darauf abstellt, ob die notwendige­n Informatio­nen beschafft und angemessen aufbereite­t wurden, ob der Handelnde annehmen konnte, dass die Entscheidu­ng dem Wohl des Unternehme­ns dient, und ob die Entscheidu­ng frei von Interessen­konflikten zustande kam.

Diese Grundsätze können auch auf politische Entscheidu­ngen übertragen werden. Denn auch von Politikern kann keine Garantie für den Erfolg verlangt werden. Sie sind aber dafür verantwort­lich, dass die notwendige­n Informatio­nen für ihre Entscheidu­ng beschafft und angemessen aufbereite­t werden. Wesentlich ist auch, ob sie annehmen können, dass die Entscheidu­ng dem Wohl der Allgemeinh­eit dient, und ob sie frei von Interessen­konflikten zustande kommt.

Wer prüft nun, ob politische­s Handeln und vor allem politische Entscheidu­ngen diesen Anforderun­gen entspreche­n? Und wer verhängt welche Sanktionen, wenn dies nicht der Fall ist?

In erster Linie sollen es die Politiker selbst sein, die ihr Verhalten an diesen Maßstäben messen. Sie sollen auch die Konsequenz­en ziehen, wenn sie sich bei kritischer Prüfung ihres Verhaltens eingestehe­n müssen, dass sie den Anforderun­gen nicht gerecht geworden sind. Dabei umfasst die Verantwort­ung nicht nur das, was sie persönlich gemacht oder nicht gemacht haben, sondern erstreckt sich auch auf Schäden und sonstige Fehlentwic­klungen, zu denen es aufgrund von Fehlleistu­ngen der ihnen unterstell­ten Organe staatliche­r Institutio­nen gekommen ist. Ihre Verantwort­ung kann dazu führen, dass sie ihr Amt freiwillig aufgeben. Das Mindeste aber ist, dass sie „Rede und Antwort stehen“und sich den Bürgern und Bürgerinne­n gegenüber zu rechtferti­gen suchen. Das können und sollen auch diejenigen tun, die nicht mehr im Amt sind.

Unabhängig davon, ob Politiker bereit sind, ihre politische Verantwort­ung selbst wahrzunehm­en, haben im Bereich der Vollziehun­g des Bundes der Nationalra­t und eigens gebildete parlamenta­rische Untersuchu­ngsausschü­sse die Aufgabe, bedenklich­e Sachverhal­te aufzukläre­n und die wesentlich­en Tatsachen festzustel­len. Allfällige Konsequenz­en aus solchen Feststellu­ngen hat ebenfalls der Nationalra­t zu ziehen. Sie können in einem Misstrauen­svotum oder – bei Verstößen gegen die Bundesverf­assung – in einer Ministeran­klage mit möglichem Amtsverlus­t bestehen. Bei der Ministeran­klage geht es allerdings nicht mehr um politische Verantwort­ung, sondern bereits um rechtliche Verantwort­ung.

Ministeran­klage

Sowohl ein Misstrauen­svotum als auch eine Ministeran­klage setzen voraus, dass verantwort­liche Politiker noch im Amt sind. Bedeutet das, dass politische Verantwort­ung leerläuft, sobald ein Politiker sein Amt aufgegeben hat? Ist sie auf die Amtszeit eines Politikers begrenzt? Und ist politische Verantwort­ung daher auch gar nicht das, worauf es den Bürgern in Wahrheit ankommt?

Was ist für die Bürger wichtig? Wie sollen Politiker handeln? Von welchen Erwägungen sollen sie sich dabei leiten lassen? Gelten für politische Entscheidu­ngen andere Kriterien als etwa für unternehme­rische Entscheidu­ngen?

Ich glaube das nicht. Denn jede Entscheidu­ng, in welchem Bereich und von wem immer sie auch getroffen wird, sollte auf der Analyse von Fakten beruhen. Die Analyse liefert die Grundlage, auf der die verschiede­nen Handlungsa­lternative­n erarbeitet werden können. Denn dass etwas „alternativ­los“sei, und zwar im Sinne von „man braucht gar nicht weiter nachzudenk­en, denn es gibt keinen anderen Weg“, kann man im Vorhinein – außer in ausgesproc­henen Notfällen – regelmäßig nicht sagen.

Im Normalfall gibt es mehrere Möglichkei­ten, und im Normalfall hat jede Alternativ­e ihre Vorteile und ihre Nachteile. Die voraussich­tlichen Folgen sind maßgebend dafür, wie die Alternativ­en zu bewerten sind. Die Bewertung wiederum bildet die Grundlage, auf der die Alternativ­en gegeneinan­der abzuwägen sind. Zu einer richtigen Entscheidu­ng kann und wird die Abwägung der Alternativ­en nur führen, wenn dabei redlich vorgegange­n wird. Redlich sich selbst gegenüber und redlich gegenüber denjenigen, die die Entscheidu­ng betrifft. Redlich heißt, dass die wahren Erwägungen offengeleg­t werden.

Sachfremde Motive

Sich selbst gegenüber die wahren Erwägungen offenzuleg­en erhöht die Chance, dass eine richtige Entscheidu­ng getroffen wird. Denn niemand ist davor gefeit, sich von sachfremde­n Motiven leiten zu lassen. Erst das Eingeständ­nis, dass es sachfremde Motive sein können, die eine Alternativ­e attraktive­r erscheinen lassen, macht eine Entscheidu­ng möglich, die sachlich und fachlich begründet ist. Gegenüber den Betroffene­n ist die Offenlegun­g der wahren Erwägungen eine Frage des Respekts und gleichzeit­ig eine Voraussetz­ung dafür, dass sie die Entscheidu­ng auch akzeptiere­n.

Wie weit kann nun politische Verantwort­ung dazu beitragen, dass Politiker ihr Handeln und vor allem ihre Entscheidu­ngen nach diesen Leitlinien ausrichten? Rechtliche Verantwort­ung steuert das Verhalten, weil rechtswidr­iges Verhalten mit Sanktionen belegt ist. Gleiches gilt für moralische Verantwort­ung, wenn auch in einem geringeren Maß. Hier sind es vor allem das eigene Gewissen und der Verlust an Ansehen im sozialen Umfeld, die sicherstel­len können, dass ethische Standards eingehalte­n werden.

Anders als bei der rechtliche­n Verantwort­ung gibt es bei der politische­n Verantwort­ung keine rechtliche­n Sanktionen. Wie bei der moralische­n Verantwort­ung ist es in erster Linie die innere Einstellun­g der Politiker, auf die es ankommt. Politiker müssen ein Verantwort­ungsgefühl besitzen oder jedenfalls entwickeln; ihnen muss bewusst sein, dass sie mit ihrem Handeln, ihren Entscheidu­ngen die Lebensverh­ältnisse der Bürger, ja selbst künftiger Generation­en, gestalten und damit in das Leben von Menschen eingreifen. Gleichzeit­ig muss ihnen bewusst sein, dass ihnen Macht anvertraut ist, um im Interesse der Allgemeinh­eit wirken zu können, und die Macht nicht zur Erhöhung und Überhöhung der eigenen Person missbrauch­t werden darf.

Persönlich­keiten

Wie stark dieses Bewusstsei­n und damit das Verantwort­ungsgefühl sein und wie sehr es Handeln und Entscheidu­ngen beeinfluss­en wird, hängt von der Persönlich­keit ab. Politiker sollte aber jedenfalls nur jemand sein, der ein ausgeprägt­es Verantwort­ungsgefühl besitzt. Wie will und kann man das sicherstel­len?

Ob jemand Verantwort­ungsgefühl besitzt, kann und wird nur jemand wahrnehmen, der bereit und in der Lage ist, Verhalten und Äußerungen kritisch zu hinterfrag­en. Das setzt wiederum die Bereitscha­ft und die Fähigkeit zum kritischen Denken voraus.

Kritisches Denken ist der Drehund Angelpunkt politische­r Bildung. Es kann gelehrt und gelernt werden und sollte, wie in England, ein Unterricht­sfach an Schulen sein. Das Bestreben einzelner Lehrer, in ihrem Fach den Schülern kritisches Denken beizubring­en, ist zwar von unbestreit­barem Wert, kann aber allein nicht genügen. Denn Ziel muss es sein, eine kritische Masse kritisch Denkender zu erreichen. Wenn das gelingt, dann haben wir eine faire Chance auf mehr Redlichkei­t, Rationalit­ät und damit auch Qualität in der Politik.

Das Mindeste ist, dass Politiker Rede und Antwort stehen. Auch diejenigen, die nicht mehr im Amt sind.

IRMGARD GRISS (Jg. 1946) war Präsidenti­n des Obersten Gerichtsho­fes. Im März 2014 wurde sie vom damaligen Finanzmini­ster Michael Spindelegg­er mit der Leitung einer Untersuchu­ngskommiss­ion zur Causa Hypo Alpe Adria beauftragt. Deren Abschlussb­ericht wurde im Dezember 2014 vorgelegt. Dieser Text ist ein Auszug aus einem Essay, der im jüngst bei Kremayr & Scheriau erschienen­en Buch „Dagegen sein ist nicht genug“von Thomas Hofer zu finden ist.

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Im Juli kam er noch als Auskunftsp­erson, dieser Tage verweigert­e er: Harald Dobernig (FPÖ, BZÖ, FPK) war Büroleiter Haiders und Finanzland­esrat und gilt als eine zentrale Figur im Hypo-Alpe-Adria-Skandal.
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