Wladimir Putins toter Einflüsterer
Im russischen Burjatien gilt das buddhistische Oberhaupt Lama Itigelow als beliebter Ratgeber – selbst der Staatspräsident bat um eine Privataudienz. Dabei ist der Lama vor 88 Jahren gestorben. Trotzdem schwitzt er und verändert sein Körpergewicht.
Tausende bunter Fähnchen flattern im Wind, rot, gelb und blau, grün oder weiß. Sie hängen an den Bäumen und Sträuchern, Symbole des Glücks. Unverkennbar weisen sie den Weg ins Iwolginski Dazan. Das buddhistische Kloster liegt mitten in der burjatischen Steppe, 30 Kilometer von der Provinzhauptstadt Ulan-Ude entfernt. Die Ausläufer des ChamarDaban-Gebirges am Horizont verbergen Baikal, den heiligen See der Burjaten.
Dazan heißt übersetzt Mönchsversammlung, und tatsächlich ist das Dazan das Zentrum des Buddhismus in Russland. Und im Mittelpunkt dieser Versammlung steht der Lama Daschi-Dorscho Itigelow. Vielmehr sitzt er dort an hohen Feiertagen wie dem Wesak (Vesakh), dem Geburts- und Todestag Buddhas. In Burjatien wird Itigelow kaum weniger verehrt als Buddha selbst. Für viele Pilger gilt er gar als eine Reinkarnation desselben.
Itigelow wurde wohl 1852 irgendwo bei Orongoi in der burjatischen Steppe geboren. Früh verlor er seine Eltern und wurde in einem Kloster zum Mönch ausgebildet. Er erlangte die Doktorwürde in Philosophie und tibetischer Medizin und stieg 1911 zum Hambo Lama, dem geistlichen Oberhaupt aller Buddhisten im russischen Zarenreich, auf. Nach der Machtübernahme der Bolschewiki zog er sich in sein Kloster zurück. 1927 versammelte er seine Schüler um sich, verkündete ihnen seinen bevorstehenden Tod, versprach ihnen aber zugleich seine Wiederkehr.
Und tatsächlich ist er seit einigen Jahren wieder da. Reich verziert steht der Itigelow-Palast in der Mitte des Iwolginsker Mönchsklosters. Schnitzereien und Symbolbilder schmücken die roten Holztüren und Wände. Darüber wölben sich die grünen für Pagoden so typischen Dachvorsprünge und die vergoldeten Spitzen. Itigelow selbst ist weniger geschmückt. In ein einfaches gelbes Gewand gehüllt, sitzt er regungslos im Lotussitz. Die Mönche des Klosters fragen täglich nach seinem Rat, obwohl Itigelow offiziell seit 88 Jahren tot ist.
Der Schweiß eines Toten
Doch Ganschur Radnajew wehrt ab: Itigelow lebt und meditiert. „Wenn er in unserer Runde sitzt und wir ihm die Kleider wechseln, dann schwitzt er“, sagt er. Wie könnte ein Toter schwitzen? Radnajew ist selbst Lama und Vorsitzender der Universitäten der buddhistischen Gemeinden Russlands.
Doch nicht nur buddhistische Gelehrte sind vom Leben Itigelows überzeugt, auch die Naturwissenschaft hat noch keine Lösung für die Rätsel gefunden, die der Leichnam aufgibt: Obwohl der Lama vor fast neun Jahrzehnten beerdigt wurde, sind die Verfallserscheinungen minimal. Alexander Chatschaturow, Strahlenchemiker an der Chemisch-Technologischen Universität, bescheinigt ihm weiche Haut und elastische Gelenke und attestiert ihm gar Reaktionen auf die Umwelt, „wenn auch nicht schnell“.
Körpertemperatur und Gewicht verändern sich – was auf Leben hindeutet. Der Gerichtsmediziner Wiktor Swjaginzew, der Gewebeproben Itigelows schon vor Jahren untersuchte, konnte keine nen- nenswerten Unterschiede zu einem lebenden Menschen feststellen.
Itigelow selbst hatte das Wunder vorausgesagt, als er seine Schüler aufforderte, ihn 30 Jahre nach dem Tod zu exhumieren. Unter der Sowjetherrschaft mussten seine Anhänger das in den 1950er-Jahren heimlich machen. Als sie das Grab öffneten, fanden sie den Körper praktisch unversehrt und begruben ihn wieder. Als Itigelow 2002 dann erneut unverwest zutage gefördert und ins Kloster verlegt wurde, entstand ein wahrer Kult um den Lama.
Das Kloster wurde zur Wallfahrtsstätte, selbst Russlands Präsident Wladimir Putin und Premier Dmitri Medwedew – beide bekennen sich zum orthodoxen Christentum – ließen es sich nicht nehmen, Itigelow einen Besuch abzustatten, um ihn um Rat zu fragen. Putin soll 2013 sogar die Mönche gebeten haben, ihn allein mit Itigelow „sprechen“zu lassen. Was er erfahren hat, darüber schweigt sich die Geschichte aus. Normalerweise ist die per Meditation stattfindende Kommunikation mit Itigelow allerdings das Privileg des Klostervorstehers, der die Anweisungen dann an die übrigen Mönche weitergibt.
Kritik an der Menschheit
Zuletzt soll Itigelow laut Radnajew angesichts des Ukraine-Konflikts über die mangelnde Lernfähigkeit der Menschen geklagt haben. „Viel gelernt haben wir in den letzten 100 Jahren nicht“, zitiert Radnajew seinen Lehrmeister. Noch immer beherrschten Gewalt und Gier das Handeln der Menschen.
Dem ist kaum zu widersprechen, und so werden die Orakel Itigelows wohl noch eine Weile Bestand haben. Genau wie der Glaube an das Wunder des ewigen Lebens, den Itigelow stur gegen alle wissenschaftlichen Erklärungsversuche verkörpert.