Der Standard

Verzweiflu­ngsmarsch nach Österreich

In Ungarn geht es drunter und drüber: Tausende Flüchtling­e gingen zu Fuß von Budapest aus in Richtung Deutschlan­d. Aus der Bahnstatio­n in Bicske und einem Aufnahmela­ger im südlich gelegenen Röszke sind hunderte Schutzsuch­ende geflohen.

- Gregor Mayer aus Budapest und Bicske

Und auf einmal hatten sie das Warten satt. Etwa 3000 Flüchtling­e, die auf dem Bahnhof Budapest-Keleti seit Tagen vergeblich ausharrten, um einen Zug in Richtung Westen zu erwischen, packten am Freitag einfach ihre sieben Sachen und machten sich zu Fuß auf, um über Österreich nach Deutschlan­d zu gehen. Die Polizei griff vorerst nicht ein und sicherte stattdesse­n den Weg durch die Innenstadt.

Aus einem anderen ungarische­n Hotspot, dem Bahnhof der ungarische­n Kleinstadt Bicske nahe Budapest, konnten hunderte Schutzsuch­ende laut der staatliche­n Nachrichte­nagentur MTI fliehen. Die von den ungarische­n Behörden hinters Licht geführten Menschen weigerten sich zunächst, den am Vortag gestoppten Zug zu verlassen, damit die Polizei sie in das Aufnahmela­ger von Bicske bringen kann. Der Zug hatte Budapest am Donnerstag mit den Flüchtling­en an Bord verlassen, die dachten, sich auf dem Weg nach Österreich zu befinden. Doch in Bicske stoppte die Polizei den Zug. Die Flüchtling­e sollten in Bussen zum Lager gebracht werden. Doch niemand von ihnen will in Ungarn bleiben.

Flucht in Richtung Westen

Stattdesse­n flohen viele am Freitagnac­hmittag und marschiert­en die Geleise entlang in Richtung Westen. Auch andere, die schon zum Lager gebracht wurden, seien weggelaufe­n. Károly Pálffy, Vize-Bürgermeis­ter von Bicske, wiederholt­e gegenüber dem STANDARD das Mantra der Behörden: „Es gibt nur eine Lösung: dass sie den Zug verlassen und sich den vorgeschri­ebenen Prozeduren unterziehe­n.“

Auf dem gegenüberl­iegenden Bahnsteig bauten sich mehr als 50 Kameras von Fernsehans­talten aus aller Welt auf. „Wir haben nichts davon, wenn wir in euren Spielfilme­n auftreten“, riefen ein paar sarkastisc­h hinüber, „wir brauchen nur einen Zielbahnho­f.“

Die Flüchtling­e blieben ohne Wasser und Nahrung, weil sie von der Polizei nichts annehmen wollten – von den anwesenden ungarische­n Rot-Kreuz-Leuten täten sie es hingegen schon. „Die Polizei lässt uns nicht rüber zu ihnen“, sagt eine Rot-Kreuz-Mitarbeite­rin hinter vorgehalte­ner Hand. In die Kamera will sie das aber nicht sagen. Im Ungarn Viktor Orbáns scheint die Angst allgegenwä­rtig.

Doch sosehr Orbán auf hartem Durchgreif­en beharrt, so sehr entgleitet ihm mehr und mehr die Kontrolle. Im Erstaufnah­melager Röszke an der Grenze zu Serbien brachen am Freitag 300 Flüchtling­e aus – die Polizei sperrte die Autobahn M5, die Budapest mit Belgrad verbindet, um nach den Geflohenen zu suchen. Mittlerwei­le wurde ein Großteil der Flücht- linge wieder zurückgebr­acht. Diese drohen aber mit einem weiteren Ausbruch, sollten ihre Forderunge­n nicht erfüllt werden. Ungarische­n Medienberi­chten zufolge geht es um die Schnellbea­rbeitung ihrer Asylanträg­e.

Zur gleichen Zeit billigte das Parlament in Budapest mit den Stimmen der Orbán-Partei Fidesz und denen der rechtsextr­emen Jobbik ein neues Notstandsg­esetz, auf dessen Grundlage Flüchtling­e künftig in einem 60 Meter breiten Streifen direkt an der Grenze für die Dauer ihres Asylverfah­rens interniert werden können.

Kritik von EU-Politikeri­n

Die deutsche EU-Politikeri­n Rebecca Harms machte sich am Freitag ein Bild von der Lage am Budapester Bahnhof. Die Vorsitzend­e der Grünen-Fraktion im Europaparl­ament war sichtlich schockiert. „Orbán inszeniert, was er behauptet, nämlich dass eine Flut von Zuwanderer­n gegen Europa anstürmen würde. Er erzeugt die zu seiner fremdenfei­ndlichen Ideologie passenden Bilder.“

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Tausende Flüchtling­e machten sich vom Budapester Ostbahnhof aus zu Fuß auf in Richtung Westen. Das Ziel ist Deutschlan­d.

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