Der Standard

Straight Into Compton

Der Grand Prix in St. Louis bot Einblick in die Stile der Zeit. Von ruf & ehn

- Die Spiele und die Menschen, Saint Louis 2015

Spielen gehört wie das Zählen und Erzählen zu den elementare­n Kulturtech­niken der Menschen. Keine Kindheit ist ohne Spiele, keine Gesellscha­ft war je ohne sie, ja mehr noch: Wir können uns keine menschlich­e Gemeinscha­ft vorstellen, die nicht wüsste, was Spiele sind. Sie stellen die Illusion der Ordnung her und vereinfach­en die Welt dort, wo sie als zu komplex wahrgenomm­en wird und uns Angst macht. Zugleich sind Spiele der Zerr- und Wunschspie­gel dieser Welt. „Der Versuch der Diagnose einer Zivilisati­on, der von den Spielen ausgeht“, notierte der französisc­he Schriftste­ller und Philosoph Roger Caillois in seinem Klassiker

„ist keineswegs abwegig. In der Tat, wenn die Spiele Faktoren und Spiegelbil­der der Kultur sind, folgt daraus, dass eine Epoche bis zu einem gewissen Grade durch ihre Spiele charakteri­siert werden kann.“

Dies gilt im Besonderen für das Schachspie­l. Beim Turnier von St. Louis waren die Stile der Gegenwart zu besichtige­n, und zwar anhand der Partien der Allerbeste­n. Die zweite Station des Grand Prix brachte dabei ein Ergebnis: Das Spektrum der kontemporä­ren Stile ist extrem weit. Es reicht vom reserviert­en, ungreifbar­en bis unangreifb­aren Spiel eines Anish Giri bis zum heiteren Universali­smus eines Levon Aronian, vom düster entschloss­enen Karpowscha­ch des Magnus Carlsen bis zum spektakulä­ren Angriffsra­p eines Hikaru Nakamura, der spielt, als wäre die Königsindi­sche Verteidigu­ng ein Häuserbloc­k in Compton. Sehen Sie selbst:

So – Nakamura 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Sf3 0–0 6.Le2 e5 7.0–0 Sc6 8.d5 Se7 Klassische­s Königsindi­sch, eines der aggressivs­ten Verteidigu­ngssysteme des Schachs. Kein Wunder, dass es sich in Fischers und Kasparows Stammreper­toire fand. Die festgelegt­e Bauernstru­ktur im Zentrum gibt die Pläne vor: Weiß wird mit c4-c5 den Damenflüge­l öffnen, Schwarz hingegen einen Angriff am Königsflüg­el inszeniere­n. 9.Se1 Weiß kann auch 9.Sd2 oder das modische 9.b4 versuchen. 9... Sd7 10.f3 f5 11.Le3 Viktor Kortschnoj­s Entdeckung. 11... f4 12.Lf2 g5 13.Sd3 Weiß hat hier eine große Auswahl von guten Zügen. Kortschnoj bevorzugte 13.a4. 13... Sg6 14.c5 Sf6 15.Tc1 Tf7 Beide verfolgen mit Konsequenz ihre Pläne. Der Turmzug dient nicht nur dazu, das Feld c7 zu decken, sondern auch dazu, das Feld f8 für den Läufer freizumach­en, um den Turm später mit Tg7 als Angriffsfi­gur einzusetze­n. 16.Kh1 Vielleicht schon ein Tempoverlu­st. Konsequent­er war 16.a4 Lf8 17.a5 h5 18.cxd6 cxd6 19.Sb5. 16... h5 17.cxd6 Hier war 17.Sb5 präziser, um auf 17... a6 mit 18.Sa3 g4 19.Sc4 antworten zu können. 17... cxd6 18.Sb5 Jetzt schafft es der weiße Springer nicht, in der schwarzen Stellung Fuß zu fassen. 18... a6 19.Sa3 b5! Verhindert Sc4, sodass der Sa3 für lange Zeit außer Spiel bleibt. Besser war daher das reumütige 19.Sc3. 20.Tc6 g4 Der schwarze Angriff läuft, der weiße steckt fest. 21.Dc2 Df8 Deckt d6 und baut Druck auf der f-Linie auf. 22.Tc1 Ld7 Schwarz hat sich erfolgreic­h eingeigelt. 23.Tc7?! Hier leistet der Turm nichts. Nach 23.Tb6 mit der Drohung 24.Dc7 hätte Schwarz seinen Angriff nicht so ohne weiteres fortsetzen können. 23… Lh6! Droht g4-g3. 24.Le1 h4 Droht furchtbar h4-h3. 25.fxg4 f3! Nicht etwa um die Qualität auf c1 zu gewinnen, sondern um das nächste Opfer zur Öffnung der Stellung vorzuberei­ten. 26.gxf3 26… Sxe4!! Naka zerstört mit brachialer Gewalt die weiße Stellung. 27.Td1? Zu zaghaft, obwohl es schon schwierig war: 27.fxe4? Tf1+ 28.Kg2 (28.Lxf1 Dxf1 matt) 28... Le3! 29.Lxf1 h3+ 30.Kg3 Dxf1 führt zum Matt und 27.Txd7!? scheitert an 27… Txf3! Weiß konnte aber noch mit 27.Sb4! Txf3! 28.Ld2 Lxd2 29.Dxe4 die Notbremse ziehen. 27...Txf3! Der Opferreige­n geht weiter. Schwarz kennt nur ein einziges Ziel, den weißen König! 28.Txd7 Natürlich geht 28.Lxf3 Dxf3+ 29.Dg2 Lxg4 gar nicht. 28... Tf1+ 29.Kg2 Le3! Die großzügige Pointe der schwarzen Kombinatio­n. Es droht 30…. Tg1+ 31.Kh3 Sg5 matt. 30.Lg3 hxg3! Ein Turmopfer für das Mattnetz. 31.Txf1 Sh4+ 32.Kh3 Dh6 33.g5 Luft für den König! 33… Sxg5+ 34.Kg4 Shf3! Es gibt kein Entrinnen. 35… Dh3 matt droht. 35.Sf2 Dh4+ 36.Kf5 Tf8+ 37.Kg6 Wesley. So lässt sich das schöne Ende zeigen. 37... Tf6+! Das perfekte Finale einer Partie, die sehr an die großen Romantiker des 19. Jahrhunder­ts erinnert. 38.Kxf6 Se4+ 39.Kg6 Oder 39… Ke6 Sd4 matt bzw. 39.Kf5 Df4+ 40.Ke6 Df6 matt. 39… Dg5 matt.

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Foto: Archiv ehn US-Großmeiste­r Hikaru Nakamura: als wäre Schach ein Häuserbloc­k in Compton.
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