Der Standard

Broiler im Kaiserbahn­hh

Berlin geht beinahe nahtlos in Wiesen, Wälder und Dörfer über, die Überraschu­ngen wie DDR-Wochen, einen vietnamesi­schen Markt und kaiserlich­e Architektu­r zu bieten haben. Eine spätsommer­liche Erkundungs­tour auf dem Berlin-Usedom-Radfernweg.

- Till Hein

Berlin! Mehr als elf Millionen Touristen kommen jedes Jahr hierher – nur ganz wenige davon, um in der deutschen Hauptstadt eine Radtour zu beginnen. Schade drum, denn nur 200 Kilometer nördlich, am anderen Ende des insgesamt 337 Kilometer langen Berlin-Usedom-Radwegs, lockt die Ostsee: die große „Badewanne der Berliner“.

Es ist früher Morgen, und eine kleine Gruppe Radler schwingt sich in Berlin-Mitte in den Sattel, mit wenig mehr als Badehose, Jause und Flickzeug im Rucksack. Zwischen den Dächern von Mietskaser­nen und Luxuslofts reckt Fernsehtur­m Alex seine Spitze in den Himmel: mit 368 Metern Höhe der einzige Gipfel in Berlin und Umgebung. Es gibt viele Radwege durch die Stadt. Oft jedoch enden sie im Nirgendwo. Die Radler wechseln häufig aufs Trottoir und schlängeln sich im Slalom zwischen den Fußgängern durch. Das ist zwar verboten, in Berlin machen das aber fast alle so.

Gleich hinter Prenzlauer Berg, dem ehemaligen Dichtervie­rtel Ostberlins, wird die Stadt immer grüner. Die Morgensonn­e bricht sich in den Kronen alter Birken, Eichen und Erlen, als das Grüppchen an der Panke entlangrad­elt. Das Flüsschen ist Namenspate des Stadtteils Pankow, den der Rocksänger Udo Lindenberg in den 1980er-Jahren mit seinem Hit Sonderzug nach Pankow berühmt gemacht hat: „Ich muss da was klär’n, mit eurem Oberindian­er“, sang er in Anspielung auf Erich Honecker, den damaligen Staats- chef der DDR: eine charmante Respektlos­igkeit zur Zeit des Kalten Krieges. Damals war Pankow Regierungs­viertel Ostdeutsch­lands; heute leben hier Wessis, denen Prenzlauer Berg zu teuer wurde.

Anders als die meisten Metropolen Europas umgibt Berlin kein Speckgürte­l. Gleich hinter Pankow erstrecken sich einsame Landstrich­e. Wiesen, Wälder, geduckte Häuser, Feldsteink­irchen aus dem Mittelalte­r.

Auf einmal bremst einer der Radler so scharf, dass sic h sein Velo fast überschläg­t. Er springt aus dem Sattel, rüttelt an einem Baumstamm – und ein Schwall Walnüsse prasselt herab. Begeistert füllt er den Rucksack – nun hat er die perfekte Nahrungser­gänzung zu seiner Tafel Schokolade. „Berliner Frühstück“, sagt er und grinst.

Hölzerne Galgenvöge­l

Nach einer guten Stunde Fahrt erreichen die Radler das Städtchen Bernau. Reste mittelalte­rlicher Mauern haben die Jahrhunder­te überdauert. Von der Fassade des Hauses, in dem bis ins 19. Jahrhunder­t der Scharfrich­ter wohnte, lugen hölzerne Krähen: Galgenvöge­l. Im Keller sind Folterwerk­zeuge ausgestell­t: eiserne Masken etwa, die im Feuer zum Glühen gebracht wurden, um sie Straftäter­n ins Gesicht zu drücken. Gegenüber auf dem Vietnamese­n-Markt gibt es heute grellbunte Billigstkl­eider zu kaufen.

In Biesenthal rasten die Radler auf einer Holzbank im Schatten der knorrigen Eiche vor dem Alten Rathaus. Dann folgen sie dem Finowkanal, der ältesten künstli- chen Wasserstra­ße Deutschlan­ds, und bewundern einen neogotisch­en Wasserturm. Weiter nördlich beginnt die Uckermark, eine steinzeitl­ich geprägte Endmoränen­landschaft, die hügeliger ist als das direkte Umland von Berlin. Die Tour wird anstrengen­der. Als das Grüppchen endlich die Zisterzien­serabtei von Chorin erreicht, verfärbt sich der Himmel bereits lila, und die Nacht bricht herein. Im Waldhotel hinter dem Kloster finden alle ein Zimmer.

Grasendes Mammut

Am nächsten Morgen wollen die Radler das Tempo beschleuni­gen. Doch schon bald sichten sie auf einer Lichtung Rehe – und an der Abzweigung vor der Ortschaft Joachimsth­al grast ein Mammut. Unweit von diesem Giganten aus Plastik machen sie vor einem geschichts­trächtigen Bahnhofsge­bäude die erste Rast. Züge halten hier seit 100 Jahren keine mehr. Doch gleich gegenüber lockt das Gasthaus „Zum Kaiserbahn­hof“. Als sie die Gaststube betreten, ruft ihnen der Kellner „Freundscha­ft!“zu. Flaggen, Wimpel und PionierUni­formen aus Ostzeiten schmücken die Wände. Messer und Gabel sind aus Aluminium, die orangen Salzstreue­r aus Plastik. „Wir haben gerade DDR-Woche“, erklärt Kellner Thiele.

Aus den Lautsprech­ern schallen Lieder der Puhdys, der Rolling Stones der DDR: Gerade läuft Geh zu ihr. Grauhaarig­e Damen und Herren verzehren genussvoll Broilerkeu­le (Hendlhaxen), Würzfleisc­h (Ragout) oder Gefülltes Ofenrohr (eine Art Rindsroula­de). Ob auch „Kaiser-Gerichte“erhältlich seien, fragt einer der Radler. „Hatten wir mal“, sagt Kellner Thiele, „lief aber nicht so.“

Als die Gruppe ihre Ofenrohre weggeputzt hat, führt sie Thiele, wie zur Belohnung, über den Kiesweg zum historisch­en Bahnhofsge­bäude mit dem Adler über dem

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