„Mein Foto darf keinen Kindern gezeigt werden“
Eine Manifestation gegen Homophobie in Russland wurde zum weltbesten Pressefoto des Jahres gewählt. Das Foto von Mads Nissen ist nächste Woche bei der WorldPress-Photo-Ausstellung in Wien zu sehen.
INTERVIEW: STANDARD: Jon und Alex heißen die Protagonisten auf Ihrem Foto. Wie war ihre Reaktion, als sie von der Auszeichnung erfahren haben? Nissen: Ich habe ihnen die erfreuliche Neuigkeit mitgeteilt, wollte sie aber gleichzeitig warnen, weil diese Aufmerksamkeit für sie sehr gefährlich sein kann. Es kommt regelmäßig zu gewalttätigen Attacken gegen Homosexuelle. Diese Homophobie, nicht nur in Russland, ist der Grund, warum ich diese Arbeit mache.
STANDARD: Waren Sie beim Fotografieren Gefahren ausgesetzt? Nissen: Mein Anspruch ist, Geschichten zu machen, die mich tangieren, für die ich brenne. Der schlimmste Moment war, als ich eine gewalttätige Attacke auf einen Homosexuellen bei einer Parade miterlebt habe. Einerseits habe ich mich gefürchtet, andererseits war der Wunsch da, etwas dagegen zu tun und die unterschiedlichen Aspekte von Homophobie in Russland zu beleuchten.
STANDARD: Welche Aspekte? Nissen: Es sind verschiedenen Arten von Gewalt. Nicht nur jene, die von jungen Menschen auf der Straße gegen Homosexuelle ausgeübt wird, sondern auch die Gewalt, die von Institutionen ausgeht – von den führenden Politikern bis zur Kirche.
STANDARD: Haben Sie diese institutionelle Gewalt persönlich erlebt? Nissen: Nein, nicht direkt, aber jene Leute, die ich fotografiert habe. Etwa infolge des AntiHomosexuellen-Gesetzes, das sogenannte Propaganda bei Minderjährigen für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen unter Strafe stellt. Das bedeutet, dass mein Foto keinen Kindern und Jugendlichen gezeigt werden darf, obwohl nichts Explizites, Privates zu sehen unter Zensur.
ist. Das
fällt
STANDARD: Können Sie Ihre Fotos in Russland in einer Ausstellung zeigen? Nissen: Ja, es dürfen aber nur über 18-Jährige reinkommen. Die Ausstellung in Moskau im Rahmen des World Press Photo Award stand auf der Kippe. Als Sponsoren von dem Thema erfahren haben, haben viele einen Rückzieher gemacht. Druck hat in Russland viele Gesichter und zeigt sich nicht nur in rigiden Gesetzen, sondern auch über sozialen und ökonomischen Druck. Die Ausstellung konnte letztendlich mit Crowdfunding finanziert werden. Aufgabe von Journalismus ist, Information zu verbreiten, die jemand nicht veröffentlicht haben möchte. Der Kampf gegen Homophobie muss nicht nur in Russland geführt werden, sondern in vielen anderen Ländern auch.
STANDARD: Das Foto wurde in der Wohnung von Jon und Alex ge-
Das interessante Foto ist nicht jenes mit den Leichen
drauf.
macht. In sehr intimer Atmosphäre. Wie ist es dazu gekommen? Nissen: Als diese Aufnahme entstanden ist, habe ich bereits ein oder eineinhalb Jahre an dem Thema gearbeitet. Ich habe viel Gewalt und Depression gesehen, fotografiert, mir aber gedacht, dass irgendetwas fehlt. Eine Brücke, die alle Menschen verbindet: Liebe. Jon und Alex kannten schon meine Arbeiten, kennengelernt habe ich sie über einen gemeinsamen Freund. Nachdem wir geredet und Bier getrunken hatten, gingen wir in ihre Wohnung. Ich habe gesagt, sie sollen so tun, als wäre ich gar nicht hier.
STANDARD: Und wussten Sie in diesem Moment, DAS Foto ist es? Nissen: Wenn ich arbeite, versuche ich, das Resultat auszublenden und meiner Intuition zu folgen. Also mehr mit dem Bauch statt mit dem Hirn. Ich vergleiche es gern mit Tanzen. Denkst du zu viel nach, verlierst du den Rhythmus. Nach dem Fotografieren war ich mir allerdings sicher, dass das ein sehr magischer, intensiver Moment war. In dieser Nacht sind hunderte Bilder entstanden.
STANDARD: In Österreich hat die „Kronen Zeitung“ein Foto mit toten Flüchtlingen in einem Lkw gedruckt. Würden Sie das machen? Nissen: Wir sollten das Foto auf jeden Fall machen. Es ist ein wichtiges Dokument. Ob solche Fotos gedruckt werden sollen, kommt auf den Kontext an. Die Herausforderung ist, die Leser nicht zu verstören, sie aber so zu bewegen, dass es sie berührt. Das ist die Latte, die ich mir selbst lege. Ich habe viele Sachen fotografiert, für die ich schockierendere Fotos hätte nehmen können, aber Leute würden die Seite überblättern oder sie schließen. Wir Fotografen möchten aber das Gegenteil erreichen.
STANDARD: Die Gesichter wurden unverpixelt gezeigt. Nissen: Von einer sehr argen Situation kann man ein anderes Bild machen. Wenn ich Tote oder ein Begräbnis dokumentieren soll, ist das interessante Foto nicht jenes mit den Leichen drauf, sondern jenes mit der Umgebung.
MADS NISSEN (35) arbeitet für die dänische Zeitung „Politiken“. Sein Pressefoto des Jahres ist ab Donnerstag in der Wiener Galerie Westlicht zu sehen. p Mehr Fotos auf derStandard.at/Etat