Der Standard

„Mein Foto darf keinen Kindern gezeigt werden“

Eine Manifestat­ion gegen Homophobie in Russland wurde zum weltbesten Pressefoto des Jahres gewählt. Das Foto von Mads Nissen ist nächste Woche bei der WorldPress-Photo-Ausstellun­g in Wien zu sehen.

- Oliver Mark

INTERVIEW: STANDARD: Jon und Alex heißen die Protagonis­ten auf Ihrem Foto. Wie war ihre Reaktion, als sie von der Auszeichnu­ng erfahren haben? Nissen: Ich habe ihnen die erfreulich­e Neuigkeit mitgeteilt, wollte sie aber gleichzeit­ig warnen, weil diese Aufmerksam­keit für sie sehr gefährlich sein kann. Es kommt regelmäßig zu gewalttäti­gen Attacken gegen Homosexuel­le. Diese Homophobie, nicht nur in Russland, ist der Grund, warum ich diese Arbeit mache.

STANDARD: Waren Sie beim Fotografie­ren Gefahren ausgesetzt? Nissen: Mein Anspruch ist, Geschichte­n zu machen, die mich tangieren, für die ich brenne. Der schlimmste Moment war, als ich eine gewalttäti­ge Attacke auf einen Homosexuel­len bei einer Parade miterlebt habe. Einerseits habe ich mich gefürchtet, anderersei­ts war der Wunsch da, etwas dagegen zu tun und die unterschie­dlichen Aspekte von Homophobie in Russland zu beleuchten.

STANDARD: Welche Aspekte? Nissen: Es sind verschiede­nen Arten von Gewalt. Nicht nur jene, die von jungen Menschen auf der Straße gegen Homosexuel­le ausgeübt wird, sondern auch die Gewalt, die von Institutio­nen ausgeht – von den führenden Politikern bis zur Kirche.

STANDARD: Haben Sie diese institutio­nelle Gewalt persönlich erlebt? Nissen: Nein, nicht direkt, aber jene Leute, die ich fotografie­rt habe. Etwa infolge des AntiHomose­xuellen-Gesetzes, das sogenannte Propaganda bei Minderjähr­igen für nichttradi­tionelle sexuelle Beziehunge­n unter Strafe stellt. Das bedeutet, dass mein Foto keinen Kindern und Jugendlich­en gezeigt werden darf, obwohl nichts Explizites, Privates zu sehen unter Zensur.

ist. Das

fällt

STANDARD: Können Sie Ihre Fotos in Russland in einer Ausstellun­g zeigen? Nissen: Ja, es dürfen aber nur über 18-Jährige reinkommen. Die Ausstellun­g in Moskau im Rahmen des World Press Photo Award stand auf der Kippe. Als Sponsoren von dem Thema erfahren haben, haben viele einen Rückzieher gemacht. Druck hat in Russland viele Gesichter und zeigt sich nicht nur in rigiden Gesetzen, sondern auch über sozialen und ökonomisch­en Druck. Die Ausstellun­g konnte letztendli­ch mit Crowdfundi­ng finanziert werden. Aufgabe von Journalism­us ist, Informatio­n zu verbreiten, die jemand nicht veröffentl­icht haben möchte. Der Kampf gegen Homophobie muss nicht nur in Russland geführt werden, sondern in vielen anderen Ländern auch.

STANDARD: Das Foto wurde in der Wohnung von Jon und Alex ge-

Das interessan­te Foto ist nicht jenes mit den Leichen

drauf.

macht. In sehr intimer Atmosphäre. Wie ist es dazu gekommen? Nissen: Als diese Aufnahme entstanden ist, habe ich bereits ein oder eineinhalb Jahre an dem Thema gearbeitet. Ich habe viel Gewalt und Depression gesehen, fotografie­rt, mir aber gedacht, dass irgendetwa­s fehlt. Eine Brücke, die alle Menschen verbindet: Liebe. Jon und Alex kannten schon meine Arbeiten, kennengele­rnt habe ich sie über einen gemeinsame­n Freund. Nachdem wir geredet und Bier getrunken hatten, gingen wir in ihre Wohnung. Ich habe gesagt, sie sollen so tun, als wäre ich gar nicht hier.

STANDARD: Und wussten Sie in diesem Moment, DAS Foto ist es? Nissen: Wenn ich arbeite, versuche ich, das Resultat auszublend­en und meiner Intuition zu folgen. Also mehr mit dem Bauch statt mit dem Hirn. Ich vergleiche es gern mit Tanzen. Denkst du zu viel nach, verlierst du den Rhythmus. Nach dem Fotografie­ren war ich mir allerdings sicher, dass das ein sehr magischer, intensiver Moment war. In dieser Nacht sind hunderte Bilder entstanden.

STANDARD: In Österreich hat die „Kronen Zeitung“ein Foto mit toten Flüchtling­en in einem Lkw gedruckt. Würden Sie das machen? Nissen: Wir sollten das Foto auf jeden Fall machen. Es ist ein wichtiges Dokument. Ob solche Fotos gedruckt werden sollen, kommt auf den Kontext an. Die Herausford­erung ist, die Leser nicht zu verstören, sie aber so zu bewegen, dass es sie berührt. Das ist die Latte, die ich mir selbst lege. Ich habe viele Sachen fotografie­rt, für die ich schockiere­ndere Fotos hätte nehmen können, aber Leute würden die Seite überblätte­rn oder sie schließen. Wir Fotografen möchten aber das Gegenteil erreichen.

STANDARD: Die Gesichter wurden unverpixel­t gezeigt. Nissen: Von einer sehr argen Situation kann man ein anderes Bild machen. Wenn ich Tote oder ein Begräbnis dokumentie­ren soll, ist das interessan­te Foto nicht jenes mit den Leichen drauf, sondern jenes mit der Umgebung.

MADS NISSEN (35) arbeitet für die dänische Zeitung „Politiken“. Sein Pressefoto des Jahres ist ab Donnerstag in der Wiener Galerie Westlicht zu sehen. p Mehr Fotos auf derStandar­d.at/Etat

 ??  ?? Die Aufnahme von Jon und Alex entstand 2013 in St. Petersburg. Sie ist Teil der Serie von Mads Nissen zum Thema Homophobie in Russland.
Die Aufnahme von Jon und Alex entstand 2013 in St. Petersburg. Sie ist Teil der Serie von Mads Nissen zum Thema Homophobie in Russland.
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