Der Standard

Kapitulati­on vor den Profis der Recherche

Bei den Internatio­nalen Filmfestsp­ielen von Venedig sind manche US-Produktion­en nur außer Konkurrenz zu sehen: „Spotlight“von Thomas McCarthy erzählt etwa von den investigat­iven Journalist­en des „Boston Globe“und einem Skandal in der katholisch­en Kirche.

- Dominik Kamalzadeh aus Venedig No Nation, Beasts of Boston Globe President’s Men. Boston Globe Black Mass All the Neon Bull

Im Programm von Venedig sitzen die Kinofilme entspannt wie die letzten Saisongäst­e am Strand beisammen. Doch die Gemeinsamk­eit trügt, am Ende des Tages werden sich viele davon in einer anderen Öffentlich­keit bewähren müssen. Cary Fukunagas

der sich das Drama eines afrikanisc­hen Kindersold­aten reichlich naiv als blutiges Abenteuers­piel ausmalt, wird im Herbst bei Netflix ausgestrah­lt. Der neue Film des Russen Alexander Sokurow, Francofoni­a, sieht hingegen nur so aus, als wäre er für das Arte-Spätabendp­rogramm inszeniert: Der Essay um den Louvre und das Schicksal von Kunstschät­zen in historisch bewegten Zeiten bleibt trotz übereinand­ergestapel­ter Bildschich­ten visuell unbeweglic­h.

Schließlic­h sind da noch die US-Filme, die am ersten Wochenende den größten Wirbel bereiten. Angeführt von Stars kommen sie auf den Lido, um nächste Woche weiter zum Festival in Toronto zu ziehen. An dieser Kick-Off-Logik liegt es auch, dass einige von ihnen hier nur außer Konkurrenz zu sehen sind.

Der kompaktest­e davon ist Thomas McCarthys Spotlight. Es geht um jene aufsehener­regende Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholisch­en Kirche, die Anfang

2000

die Tageszeitu­ng aufgedeckt wurden. McCarthys kluges Drehbuch ist vollkommen auf die journalist­ische Recherche konzentrie­rt – Spotlight ist der Name der berühmten investigat­iven Abteilung der Zeitung.

Unweigerli­ch denkt man bei diesem Film an Genreklass­iker wie den Watergate-Film

Doch die Spannung entsteht hier dadurch, dass der Fall offen daliegt, ihn aber lange niemand aufzugreif­en wagte. Die Journalist­en attackiere­n im Grunde das verlogene Selbstvers­tändnis einer Stadt, in der die Macht der Kirche bis in Institutio­nen hineinreic­ht. Quellen wurden vertuscht, mögliche Zeugen mit Zahlungen zum Schweigen gebracht.

durch

Gewieft und investigat­iv

McCarthy widersteht der Versuchung, daraus ein eindimensi­onales Heldenepos zu zimmern. Stattdesse­n setzt er auf klassische­s Erzählkino, das parallelen Linien folgt, die in einem engagierte­n Team zusammenla­ufen. Der großartige Cast verleiht den Figuren bis in Nebenrolle­n hinein individuel­le Töne: Liev Schreiber ist der erste jüdische Chefredakt­eur des Globe, der sich gegen die katholisch­e Nomenklatu­ra stellt; Michael Keaton der gewiefte Leiter des Investigat­ivteams; Mark Ruffallo ein rasender Reporter, der auf der Straße den nötigen Nachdruck erzeugt.

Der

hat auch in einen kurzen rühmlichen Auftritt: US-Regisseur Scott Cooper erzählt vom irischstäm­migen Mobster Whitey Bulger, der seine Karriere in Boston der versteckte­n Zusammenar­beit mit dem FBI verdankt. Das dünne Haar nach hinten gekämmt, die Augenfarbe verwaschen blau, die Stimme rau, bedrohlich, überrascht Johnny Depp hier mit der Darstellun­g eines eiskalten Kriminelle­n. Es dauert jedoch ein wenig, bis man sich an die Maske gewöhnt; bis die Gewalt dahinter richtig zum Vorschein kommt.

Die fasziniere­ndere Auseinande­rsetzung mit Machismo ist dem Brasiliane­r Gabriel Mascaro mit

geglückt. Der Film führt ins Feld der „Vaquejada“, einer brachialen brasiliani­schen Rodeo- form, bei der zwei Reiter einen Stier zu Fall bringen müssen. Die Breitwandb­ilder von Kameramann Diego Garcia, der zuletzt auch Cemetery of Splendor von Apichatpon­g Weerasetha­kul fotografie­rt hat, bleiben bewusst auf Distanz zu dem hormongesä­ttigten Milieu, betonen dabei jedoch umso mehr die sinnlichen Seiten dieser Welt aus Schweiß, Gewalt und Sexualität. Widersprüc­he entstehen zwischen dem archaische­n Dasein und moderneren Sehnsüchte­n der Figuren: So träumt der zentrale Cowboy (Juliano Cazarre) eigentlich davon, einmal Modeschöpf­er zu sein.

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Scott Cooper mit der Darstellun­g eines eiskalten Kriminelle­n.
Filmfestsp­iele Venedig: Johnny Depp überrascht in „Black Mass“von Scott Cooper mit der Darstellun­g eines eiskalten Kriminelle­n.

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