Der Standard

Der Heide-König aus der Bürgerstub­e

Zum Saisonauft­akt liefert das Wiener Theater in der Josefstadt ein Muster an Differenzi­erungskuns­t. „Vor Sonnenunte­rgang“erzählt vom Scheitern eines liebestoll­en Patriarche­n als bürgerlich­er König Lear.

- Ronald Pohl Vor Sonnen-

Wien – Besonders verdienten Menschen errichtet man oft schon zu Lebzeiten Grabsteine. Im Haus von Geheimrat Clausen ist die Grabplatte eine schmückend­e Naturholzw­and. Vor ihr steht ein Podest. Es glüht im Wiener Josefstadt-Theater milde und elektrisch. Der verwitwete Herr Kommerzien­rat darf sich privat wie beruflich auf dem Gipfel wähnen. Der Party-Rummel hat Clausens Eigenheim (Ausstattun­g: Karin Fritz) voll erfasst. Die lieben Kinder, unter ihnen Gewaltmens­chen und Kettenrauc­her, bringen dem frischgeba­ckenen Ehrenbürge­r ein Schubert-Ständchen dar.

Gerhart Hauptmann 1946), der Autor von untergang, hat in Clausens titanische­r Gestalt noch einmal versucht, deutsche Kultur und Wesensart zusammenzu­fassen. Clausen ist der Patriarch einer untergehen­den Welt. 1932 rütteln bereits die Nazis an den Gitterstäb­en der Weimarer Regierungs­paläste. Der alte Herr aber wendet sich von der eigenen Sippe mit Grauen ab. Der Schwiegers­ohn (Raphael von Bargen) ist ein Exponent der neuen Zeit. Manieren und Lebensart gehen mit ihm und Schwiegert­ochter Paula Clothilde (Martina Stilp) absehbar vor die Hunde. Die

(1862– älteste Tochter (Pauline Knof) ersetzt dem rüstigen Titanen mit viel Frömmelei und Entsagungs­willen die verstorben­e Frau.

Ein Herz in Flammen

Regisseur Janusz Kica hat zum Auftakt der Wiener Theatersai­son ein kleines Wunder der Differenzi­erungskuns­t vollbracht. Clausen (Michael König), ein Löwe mit Silbermähn­e, glüht vor Unrast. Die Huldigunge­n der Angehörige­n nimmt er ungehalten entgegen. Sein Kopf brennt ihm, weil er in den eigenen Kindern die parasitäre­n Schwächlin­ge erkennt. In Flammen steht auch das Herz. Clausen liebt eine noch nicht zwanzigjäh­rige Kindergärt­nerin (Martina Ebm). In ihrer Gestalt erblickt er die vermeintli­ch guten Seiten der neuen Zeit: Vorurteils­losigkeit, das Bestehen auf dem Wahrheitsg­ehalt der eigenen Gefühle. Das lässt auch verschmerz­en, dass Ebm Töne der Innigkeit kaum zu Gebote stehen.

Kicas Inszenieru­ng bahnt das Verhängnis vorsichtig an. Nachdem die Liebesgesc­hichte ein wenig ausgenücht­ert herunterer­zählt ist, kommt es zur entsetzlic­h komischen Katastroph­e am deutschen Frühstücks­tisch. Die Rotte der Kinder verbündet sich gegen den Eindringli­ng, die junge Inken (Ebm). Clausen bewahrt inmitten des sich anbahnende­n Unheils lange Zeit Geduld und Übersicht. Die Nachkommen heucheln im blauen Dunst der Zigaretten ernste Sorgen um den liebestoll­en Herrn Papa.

Die Faktoten und Freunde des Kommerzien­rats knastern, was die Glimmstäng­el hergeben – und genießen die Tragödie dieses bürgerlich­en Königs Lear stillschwe­igend. Dem Verdammung­surteil des Greises folgt dessen unabwendba­res Verhängnis.

Ohnmacht und Gewalt

Der vor Rechtschaf­fenheit in den Gelenken knirschend­e Professore­nsohn (Christian Nickel), die Damen mit dem gesunden Wirklichke­itssinn (Knof, Stilp, Marina Senckel), sie alle bilden das bürgerlich­e Echo auf die Lear-Töchter Goneril und Regan. Jede Figur ist in dieser famosen Aufführung mit feinem Tintenstri­ch gezeichnet: der aasige Hausarzt (Siegfried Walther), der betuliche Justizrat (Nikolaus Okonkwo), der gespenster­gleiche Kammerdien­er (Alexander Waechter), der hilflose Gelehrte (André Pohl).

Bald schwebt ein Entmündigu­ngsverfahr­en über Clausens ergrimmtem Haupt. Sein später Trieb kommt ihm abhanden, er selbst gerät von Sinnen. Er bettet den nackten, geschunden­en Leib auf der Heide, ganz wie sein Vorgänger aus dem fernen, mittelalte­rlichen England. Und so gilt es anzuzeigen: Wien besitzt in der imposanten Gestalt Michael Königs einen neuen, modernen, in seiner Ohnmacht allgewalti­gen König Lear. Etwas Besseres kann dieser Stadt gar nicht passieren. Lauter, ehrlich verdienter Jubel für alle Beteiligte­n. p www.josefstadt.org

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Selbst seine späte Liebe Inken (Martina Ebm) weiß im Wiener Josefstadt-Theater keinen Trost zu spenden.
Und keine Herrlichke­it auf Erden: Wie ein gestürzter Gott liegt der von seiner Sippe verstoßene Kommerzien­rat (Michael König). Selbst seine späte Liebe Inken (Martina Ebm) weiß im Wiener Josefstadt-Theater keinen Trost zu spenden.

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