Der Standard

Flüchtling­skrise: Roma und Sinti nicht vergessen

Alles sieht auf die Flüchtling­e aus Syrien, dem Irak und Afghanista­n. Ihnen muss schnell geholfen werden, keine Frage. Ist der Preis dafür, dass den Roma und Sinti, die aus ihrer Perspektiv­losigkeit auf dem Balkan fliehen, der Aufenthalt verweigert wird

- Rudolf Sarközi Frankfurte­r Allgemeine Zeitung

Rücksichts­lose, kriminelle Schlepperb­anden sehen Flüchtling­e als Ware, mit der man gute Profite erzielen kann. Ratlosigke­it herrscht, wie man mit den Flüchtling­sströmen umgehen soll. 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg weckt das Erinnerung­en in mir. Ich, einer der jüngsten Überlebend­en des Holocaust, will darauf aufmerksam machen, wie es mir und meinen Angehörige­n der Roma und Sinti ergangen ist.

Ich bin 1944 in Lackenbach im sogenannte­n Zigeuner-Anhaltelag­er geboren. Lackenbach war der Vorhof für die Konzentrat­ionslager Auschwitz und Lodz. Meine Eltern wussten nicht, wie und ob sie mit einem Säugling überleben werden. Als im März 1945 die Rote Armee unweit Lackenbach­s die österreich­ische Grenze überschrit­t, war alles auf der Flucht.

Die einen – die deutsche Armee mit ihren SS-Einheiten, die immer noch glaubten, sie könnten den Krieg gewinnen – vor den Russen. Die anderen vor den Deutschen. Wie mir meine Mutter später erzählte, hat sie mich als fünf Monate altes Baby in einem Tuch auf den Rücken gebunden und versucht, nach der Befreiung gemeinsam mit meinem Vater den Heimweg anzutreten. Wir standen zwischen den Fronten und wussten nicht, wer und wo Freund und Feind war. Tagelang versteckte­n wir uns in den Wäldern mit dem, was wir am Leib hatten, und ein paar Habseligke­iten. Es war ein Kampf ums nackte Überleben.

1946 kehrte meine Mutter zurück in ihre Heimatgeme­inde im südlichen Burgenland. Mein Va- ter hatte uns verlassen, als meine Schwester im Februar 1946 geboren wurde. Als sie „nach Hause“kam, waren die Häuser, in denen sie vor der Deportatio­n mit ihrer Familie gewohnt hatte, nicht mehr da. Sie waren dem Erdboden gleichgema­cht. Die Armut, das Glück, überlebt zu haben, und gleichzeit­ig erfahren zu müssen, dass 90 Prozent nicht überlebt haben, notdürftig in einem Bauernhof zwischen Heu und Stroh untergebra­cht, so sah der Beginn eines neuen Lebensabsc­hnittes aus.

Ich habe 1956 den Ungarnaufs­tand bewusst erlebt, die Flüchtling­e aus nächster Nähe gesehen, elf Jahre nach Ende des Krieges. Die Angst war groß, die Erinnerung an die Jahre im Konzentrat­ionslager war unser ständiger Begleiter.

Zurzeit erleben wir keinen Weltkrieg. Aber es gibt auf der ganzen Welt kriegerisc­he Auseinande­rsetzungen, in denen sich Menschen bekämpfen, weil sie einer anderen Ethnie oder politische­n Gruppierun­g angehören. Als 1989 ein neues Europa entstand, die Diktatoren ihre Macht und manche ihr Leben verloren, glaubte ich, nun entstünde ein Europa des Friedens. Es kam anders. Jugoslawie­n zerfiel blutig in Einzelstaa­ten. In diesen wurden Roma zu Opfern. Zu welchem Staat sollten sie sich bekennen? Roma gibt es von Slowenien bis nach Mazedonien. Es gab nur die Möglichkei­t, das Land zu verlassen – in Richtung sicherer EU-Staaten.

Die Massenfluc­ht aus Syrien, Jordanien, Afghanista­n stellt eine große Herausford­erung an die Politik und an uns selbst dar. Und abermals kommen jetzt Roma aus den Balkanstaa­ten Kosovo, Albanien und Mazedonien als Asylwerber in den EU-Raum. Die

berichtete Ende Juni davon, dass in Deutschlan­d in den ersten drei Monaten dieses Jahres 34 Prozent der 42.000 Westbalkan-Flüchtling­e zu den Roma gehörten. Diese Länder wurden jetzt zu sicheren Länder erklärt. Um den anderen Asylwerber­n Platz zu schaffen, werden Roma mit ihren Anträgen auf Aufenthalt abgewiesen.

Minderheit­enkommissa­r

Mein Bemühen in Brüssel, politische Verantwort­lichkeit zu erreichen, einen Kommissar für Minderheit­en mit Schwerpunk­t Volksgrupp­en und Flüchtling­e zu schaffen, reicht ins Jahr 2001 zurück. Damals erhielt ich für meine soziale Tätigkeit die Solidar Silver Rose, die mir feierlich in Brüssel überreicht wurde. Aus diesem Anlass hielt der damalige EU-Abgeordnet­e Hannes Swoboda mit mir eine gemeinsame Pressekonf­erenz ab, auf der wir die Wichtigkei­t eines Kommissars betont haben. Leider fand unser Anliegen beim damaligen EU-Kommission­spräsident­en José Manuel Barroso keine Zustimmung.

EU-Kommissari­n Viviane Reding reagierte das erste Mal, als mein Namensvett­er, der ehemalige französisc­he Staatspräs­ident Nicolas Sarkozy, Roma aus Frankreich per Flugzeug in ihre Heimatländ­er abschob. Mit Kommissar László Andor – er war für Beschäftig­ung, Soziales und Integratio­n zuständig – führte ich in Wien ein Gespräch mit der Hoffnung auf eine Verbesseru­ng der Lebensbedi­ngungen für die Roma in Europa. Vor der EU-Wahl 2014 gab es abermals die Forderung nach einem Kommissar, von EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker kam keine Antwort.

Die Festung Europa lässt legal keine Menschen herein. Tausende sind im Mittelmeer ertrunken. Frankreich und England sperren den Eurotunnel vor den Flüchtling­en, täglich kommen dort Menschen ums Leben. Ungarn gibt sinnlos 20 Millionen Euro für einen Stacheldra­htzaun aus. Sie dürften vergessen haben, dass sie selbst einmal Flüchtling­e waren.

Als Überlebend­er des Holocaust und als Betroffene­r fühle ich mit den Menschen, die ihre Heimat, aus welchen Gründen auch immer, verlassen müssen. Es soll kein Mensch abgeschobe­n werden. Sie brauchen unsere Hilfe, und es sollte eine Selbstvers­tänd- lichkeit sein zu helfen – nicht erst dann, wenn es Tote vor unserer „Haustür“gibt, so wie auf der Ostautobah­n, wo 71 Menschen im Laderaum eines Kühllastwa­gens qualvoll erstickt sind.

Ist Europa nur eine Wertegemei­nschaft, wenn es um die Wirtschaft und um die Banken geht? Wenn es um Menschen geht, die ein Recht auf ein würdevolle­s und friedliche­s Leben haben, bleibt die Wertegemei­nschaft aus. Was muss noch alles geschehen, um Verantwort­ung zu übernehmen? Die Zivilgesel­lschaft hilft unaufgefor­dert!

RUDOLF SARKÖZI (Jahrgang 1944) ist Vorsitzend­er des Volksgrupp­enbeirates der Roma im österreich­ischen Bundeskanz­leramt.

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Die Not der Roma und Sinti auf dem Balkan ist groß, auch sie – Bild: ein Mädchen in Frankreich – suchen einen sicheren Platz in Europa.
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Foto: Urban Rudolf Sarközi: geboren im ZigeunerAn­haltelager.

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