Der Standard

„Das Land versucht, mit sich klaa

Er war ein Aktivist des Euromaidan und ist eine der jungen, kritischen Stimmen seines Landes. De über seinen neuen Roman „Mesopotami­en“und darüber, warum er seiner Stadt Charkiw ein

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Serhij Zhadans Roman Mesopotami­en (Suhrkamp-Verlag) ist gerade in deutscher Übersetzun­g erschienen. Der ukrainisch­e Schriftste­ller gehört zu den beliebtest­en Autoren seines Landes. Er war auch Aktivist des Euromaidan und äußert sich immer wieder kritisch zu politische­n Ereignisse­n in der Ukraine. Zhadan lebt in der ostukraini­schen Stadt Charkiw, der er mit seinem neuen Roman ein poetisches Denkmal gesetzt hat.

Standard: Wie ist die Atmosphäre in Ihrer Heimatstad­t Charkiw? Lässt sich ein normaler Alltag leben, wenn rund 200 Kilometer entfernt ein Krieg tobt?

Auf den ersten Blick ist hier alles ganz normal, alles ist ruhig. Charkiw ist eine friedliche, sonnige Stadt. Die Leute gehen einfach ihrem Alltag nach. Aber wenn du genau hinschaust, bemerkst du die Leute, die bestimmte Verwaltung­sgebäude mit Maschineng­ewehre bewachen, du siehst die Soldaten am Bahnhof, die von der Front zurückkehr­en oder an die Front fahren. Manchmal sieht man Militärfah­rzeuge, die in Richtung Donbass fahren. Und natürlich fallen einem die großen Plakate auf, auf denen zum Beispiel zu lesen ist: „Separatism­us verursacht Zerstörung.“Du siehst all das und wirst daran erinnert, dass im Land Krieg herrscht – in dem jeden Tag Menschen sterben. Tatsächlic­h brauchen die Leute in Charkiw keine Plakate, um an den Krieg erinnert zu werden. Denn jeder hat einen Verwandten, der im Krieg kämpft, der der Armee mit Hilfsliefe­rungen unter die Arme greift oder der sich für die Binnenflüc­htlinge einsetzt. Dieser Krieg ist irgendwie seltsam. Auch für uns scheint er weit weg zu sein. Aber schon heute betrifft er fast jeden. Tatsächlic­h kann jeder eine Einberufun­g erhalten, dann wird der Krieg zum Teil deiner unmittelba­ren Wirklichke­it.

Standard: Im vergangene­n Jahr haben Sie in einem Artikel geschriebe­n, dass die Ukrainer den Krieg nicht als solchen sehen, dass sie sich lieber in den Alltag flüchten. Wie sieht es nach einem Jahr aus? Ist der Krieg in den Köpfen angekommen?

Nicht wirklich. Es gibt diejenigen, die den Krieg als solchen akzeptiere­n. Und solche, die die Augen vor ihm verschließ­en und so tun, als würde der Krieg sie nicht betreffen. Natürlich gibt es in der Gesellscha­ft eine gewisse Kriegsmüdi­gkeit, im physischen und auch im psychologi­schen Sinn. Wenn man ein ganzes Jahr lang in den Nachrichte­n immer wieder hört, wie viele Menschen umgekommen sind, ist das alles andere als leicht, selbst wenn man unter den Toten keinen Bekannten hat. Also entscheide­t jeder für sich, wie er mit diesem Krieg umgeht. Einer meldet sich freiweilli­g an die Front, der andere versteckt sich vor der Einberufun­g. In diesem Augenblick gibt es einen sehr schwierige­n psychologi­schen Moment. Es ist wichtig, dass man nicht zerbricht, dass man nicht der grassieren­den Hysterie und Angst erliegt. Ich denke, dass die Ukraine damit klarkommen wird, auch um den toten Mitbürgern gerecht zu werden.

Standard: Sie sind im vergangene­n und in diesem Jahr durch die ganze Ukraine gereist. Kann die Literatur in solchen schwierige­n Zeiten eine Hilfe sein?

Es ist wirklich seltsam. Es scheint, dass die Kultur in Zeiten des Krieges auf „Sparflamme“gehen muss, da allen nicht sonderlich nach Kultur ist. Aber tatsächlic­h ist es den Menschen in jedweder Situation und unter jedweden schwierige­n Bedingunge­n und Problemen wichtig zusammenzu­halten – nicht des Hasses, der Bosheit oder der Panik wegen, sondern wegen der Dinge, die ihre früheren friedliche­n Leben untereinan­der verbinden, wegen der Dinge, die sie geformt haben; wegen der Literatur, der Musik oder wegen der Filme, die wichtig für sie waren. Deswegen ist es heute wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Leben durch die Ereignisse im Kriegsgebi­et und durch irgendwelc­he Verlautbar­ungen von Politikern nicht begrenzt wird und dass es im Leben weiter Gedichte und Theater geben wird. Das klingt vielleicht banal, aber es ist wahr. Deswegen ist es wichtig, dass ich meine Lesungen mache und Konzerte spiele. Für viele ist das Therapie. Wir fahren auch in die kleinen Städte im Donbass. Dort fährt normalerwe­ise niemand hin – keine Dichter, keine Musiker. Für uns ist das wichtig, denn diese Reisen sind auch für uns eine Therapie. Das Land sucht sich und versucht, wieder mit sich klarzukomm­en.

Standard: Der Euromaidan hat viele zivilgesel­lschaftlic­he Initiative­n hervorgebr­acht, die den Reform- und Demokratie­prozess beeinfluss­en wollen. Ist der Enthusiasm­us der Aktivisten ungebroche­n? Oder kann man eine Müdigkeit erkennen, da die Übermacht der alten Politkaste und der Reformunwi­lligen zu groß ist?

Nein, nicht wirklich. Viele Initiative­n bestehen weiter und entwickeln sich weiter. Sie transformi­eren sich entspechen­d der Entwicklun­g im Land. Einige Projekte haben sich in eine Freiwillig­enbewegung umgewandel­t, andere wiederum wollen direkt Politik machen, wieder andere beschäftig­en sich mit Projekten im humanitäre­n Sektor. Es ist nicht wie 2005, als das Land nach der Orangen Revolution von einer totalen Lähmung ergriffen wurde. Viele Ukrainer verstehen, dass man die Arme nicht einfach hängen lassen darf – das Risiko, alles zu verlieren, das Land und sich selbst, ist einfach zu groß.

Standard: Auch in Charkiw gab es im vergangene­n Jahr den Versuch von Separatist­en und Milizen, die Macht zu übernehmen. Warum hat das im Vergleich zu Donezk und Luhansk nicht funktionie­rt?

Mir scheint, dass es dafür eine ganze Reihe von Gründen gibt: die Einstellun­g unserer lokalen Regierung, die Stimmungen in der Bevölkerun­g, die Position der Machtelite­n und auch der Zufall. Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die Voraussetz­ungen für den „Separatism­us“in Luhansk oder in Donezk nicht stärker waren als in Charkiw oder in Dniprpetrw­osk. Man muss aber auch sagen, dass die Idee dieses „Separatism­us“eigentlich von unserem Nachbarsta­at aus in unsere Wirklichke­it getragen wurde. Charkiw hatte im wohl einfach Glück – dieser sogenannte „russische Frühling“wurde hier schon sehr früh ausgemacht und aufgehalte­n. Deswegen ist Charkiw heute eine friedliche und sonnige Stadt. War- um das nicht in Donezk und in Luhansk gelungen ist? Diese Frage muss man Politikern, den Chefs der Milizpoliz­ei und den Oligarchen stellen. Leider muss das Land für diese Schande, diese Feigheit und auch für eine bestimmte Gier seit mehr als einem Jahr mit Menschenle­ben bezahlen.

Standard: Sie sagen häufig über sich selbst, dass Ihre Literatur nicht sehr politisch sei. Im Gegensatz dazu sind Sie ein sehr politische­r Mensch, der sich auch in Interviews und in seinem Blog politisch äußert. Reizt es Sie nicht, die aktuellen Ereignisse in einem politische­n Roman aufzuarbei­ten?

Klar, dass in letzter Zeit alle über Politik und über den Krieg reden. Es wäre komisch, wenn es anders wäre. Und klar, dass Dichter sich nicht immer mit Politik auskennen. Man sollte sie lieber über Metaphern befragen. Was politische Romane betrifft – im Prinzip: ja. Ich beginne gerade mit den Arbeiten an einem neuen Roman, der im Donbass spielen wird. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es ein ausgesproc­hen politische­r Roman werden wird. In der heutigen Ukraine wird natürlich vieles durch die politische Brille betrachtet. Dem kann man nur schwer entkommen.

Standard: Titel, Sprache und Stil Ihres neuen Buchs haben etwas Episches, Poetisches, teilweise Anachronis­tisches. Die Geschichte­n erinnern an die „Märchen aus 1001 Nacht“oder an die philosophi­schen Betrachtun­gen von persischen Schreibern. Glauben Sie, dass Charkiw tatsächlic­h an einer Kulturgren­ze liegt?

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„Nein, ich bin kein Hellseher. Im November 2013 war ich davon überzeugt, dass b

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