Arzukommen“
Er ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan n literarisches Denkmal setzen wollte.
Natürlich ist Charkiw eine Grenzstadt, nicht nur im geografischen Sinn, sondern auch im kulturellen. Hier haben sich immer schon unterschiedliche kulturelle Schichten vermischt. Der Stil von Mesopotamien ist bewusst anachronistisch bzw. episch. Aber es ist nicht die Kulturlandschaft, die diesen Stil diktiert, sondern im Gegenteil – ich wollte der Stadt einen Mythos geben, einen, den ich im künstlichen Rahmen des Mythos angelegt habe, ein bisschen wie eine Predigt.
Standard: Wollten Sie Ihrer Heimatstadt Charkiw so ein literarisches Denkmal setzen?
Sicher. Mir fehlte Charkiw in der Literatur. Ungeachtet dessen, dass die Stadt einen sehr interessanten Background hat, spielt Charkiw in der Literatur eine untergeordnete Rolle. Das ist ungerecht, wie ich finde. Deswegen habe ich dieses Buch vor allem für mich geschrieben.
Standard: Man hat den Eindruck, dass es ein Buch ist, das schon lange in Ihrem Kopf gearbeitet hat.
Ja, ich habe auch schon früher versucht, über mein Charkiw zu schreiben. Aber das ist mir nur fragmentarisch gelungen. Für mich ist diese Stadt nicht einfach ein Ort, an dem ich wohne. Es ist ein Ort, wo ich mich an meinem Platz fühle. Das wollte ich beschreiben. Wobei im Buch längst nicht alles steht, was ich fühle. Es könnte eine Fortsetzung geben.
Standard: Das Buch scheint reifer, düsterer und vielschichtiger als alles, was Sie vorher geschrieben haben. Es geht viel um Liebe, um Tod, um die Frage nach Transzendenz. Hat das alles mit dem Alter zu tun?
Wenn man über 40 ist, nimmt man die meisten Dinge im Leben natürlich anders wahr, als wenn man jugendliche 20 ist. Wäre ja auch komisch, wenn es anders wäre. Deswegen unterscheiden sich die Bücher, die ich vor zehn, zwanzig Jahren geschrieben habe, natürlich vehement von dem, was ich heute schreibe. Mir gefällt die Vergänglichkeit der Zeit, mir gefällt es, das aufzuspüren und in Worte zu packen. Die Zeit ist eine sehr großzügige und interessante Sache. Man braucht keine Angst vor ihr zu haben. Es wäre sogar dumm, Angst vor der Zeit zu haben. Und auch das versuche ich in Mesopotamien zu erzählen.
Standard: Immer wieder findet man auch Stellen in den Geschichten, die etwas ausgesprochen Fantastisches haben. Nutzen Sie die Literatur, um sich darüber klar zu werden, dass das Leben mehr ist als die Wiederkehr des Alltäglichen?
Ich habe mich eigentlich nie ernsthaft für Mystik interessiert. Bei mir hat sie immer eine ironische Implikation. Mich interessiert es nicht, meine Gefühle zu beschreiben, sondern die meiner Charaktere. Glaub mir! Viele Leute können in diesem Leben durch Wände gehen und haben in ihren Wohnungen geheime Zimmer, wo sich gewisse Wunder zutragen. Warum sollte ich über solche Dinge nicht schreiben?
Standard: Das Buch ist bereits 2014 in der Ukraine erschienen. Die Arbeiten daran waren schon vor dem Beginn des Euromaidan abgeschlossen. Dennoch hat man das Gefühl, dass manche Episoden eine unheimliche Vorahnung in sich tragen. Sie sind kein Hellseher, oder?
Natürlich bin ich kein Hellseher. Im November 2013 war ich davon überzeugt, dass bei uns alles ganz anders kommen würde. Daher lohnt es sich nicht, in Mesopotamien nach Hinweisen und Vorhersagen zu suchen. Vielleicht gibt es ein Gefühl der Unvermeidbarkeit und der Logik zu allem, was uns widerfährt. Vielleicht.
Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk geboren, studierte Germanistik und debütierte bereits als 17-Jähriger. Zwölf Gedichtbände, sieben Prosawerke. „Mesopotamien“(€ 23,60 / 362 Seiten) erscheint bei Suhrkamp, Frankfurt 2015