Am Mittwoch, wenn die Ente quakt
Seit nunmehr exakt hundert Jahren deckt der Pariser „Canard enchaîné“wöchentlich einen Skandal nach dem anderen auf – und ist damit zum rentabelsten Presseprodukt Frankreichs geworden.
Einmal in der Woche, genau gesagt am Dienstagabend, tut sich Seltsames in der Rue Saint-Honoré in Paris. Dunkle Limousinen aus dem Regierungsviertel der anderen Seine-Seite fahren an der Hausnummer 173 vor – doch nicht der Herr Minister steigt aus, sondern der Chauffeur. Manchmal kommen auch Eilboten per Motorrad. Sie holen etwas ab, das einem Geheimdokument ähnelt: Es ist in Rot und Schwarz gehalten, umfasst acht Seiten und noch mehr erklärende Zeichnungen. Das Papier birgt politisches Dynamit. Es vermag den Ausgang von Präsidentenwahlen zu bestimmen und Minister in die Wüste zu schicken. Deshalb wollen die höchsten Politiker im Lande schon am Vorabend wissen, was am Mittwoch die ganze Nation erfahren wird – dann erscheint an den Kiosken nämlich die neueste Ausgabe des
Voller Affären und Skandälchen, Intrigen und politischer Peinlichkeiten, nennt sich das kuriose Blatt in der Unterzeile Journal satirique paraissant le mercredi, „satirische Zeitschrift mit dem Erscheinungstermin Mittwoch“. Aber eigentlich betreibt es gar keine Satire: Dank einer anonymen Masse von Informanten – Türstehern, Gewerkschaftern, Sekretärinnen, politischen Widersachern – beschreibt der Canard (die Ente) die wirkliche, die real existierende Pariser Politik. Das ist, wenn schon, Realsatire.
Manchmal genügt eine winzige verklausulierte Meldung im „Ententeich“, der meistgelesenen Rubrik im Canard, damit Feuer am Pariser Regierungsdach ist. Manchmal sind es faktenreiche Berichte, die mit vertraulichen Dokumenten belegt werden. Die neueste Ausgabe enthüllt etwa, wie Präsident François Hollande systematisch Studien- und andere Freunde an den Schalthebeln des Staatsapparates platziert. Ein Fall von Vetternwirtschaft, wie es alle französischen Staatschefs praktizierten? Schlimmer: Hollande habe die Mustergültigkeit des politischen Benehmens zur obersten Tugend seiner Amtszeit erklärt, um sich von seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy abzuheben, erinnert sich der Canard. Dazu listet er auf, dass der Präsident Wahlversprechen (Bau von 150.000 Sozialwohnungen, Ausländerstimmrecht) schlicht vergessen habe. Dabei habe Hollande im Wahlkampf wiederholt, er werde anders als sein Vorgänger „tun, was ich sage“.
Unter dem Helm
Der Canard- Leser darf sich aber nicht nur ärgern, sondern auch amüsieren. Dafür sind die rund dreißig Karikaturen pro Ausgabe da. In der neuesten fragt der sonnengebräunte Premier Manuel Valls seinen bleichen Vorgesetzten Hollande spöttisch, ob er seinen Sommerurlaub „unter dem Helm“verbracht habe. Das ist eine Anspielung auf die präsidialen Motorradfahrten zur Mätresse Julie Gayet – und ein eleganter Wink, dass Hollande im August partout nicht angeben wollte, mit wem er in den Süden verreiste.
Diese Art französischer Realsatire ist seit nunmehr hundert Jahren das Markenzeichen des
Am 10. September 1915, in der Anfangsphase des Ersten Weltkrieges, als in Frankreich eine knallharte Pressezensur herrschte, gaben drei mutige Journalisten die erste Nummer heraus. Ihre Mission beschrieben sie so: „ wird, nach sorgfältiger Abklärung der Sachverhalte, ausschließlich falsche Nachrichten drucken. Jeder weiß, dass die französische Presse ihren Lesern seit Kriegsbeginn und ohne jede Ausnahme einzig Nachrichten liefert, die rundum stimmen. Doch das Publikum hat genug davon! Das Publikum will zur Abwechslung falsche Nachrichten. Es soll sie bekommen.“
Und es bekam sie. Während die Pariser Medien einem blinden Hurrapatriotismus frönten, beschrieb der Canard die Realität des Krieges und die Verblendung der Politiker. Um die Zensur zu umschiffen, musste er dies satirisch verbrämt tun. Die französischen Soldaten verstanden allemal. Sie reichten sich das neue Blättchen in den Schützengräben weiter und begründeten in kurzer Zeit seinen Erfolg.
Zu viele Missstände
Trotz der satirischen „Tarnung“wurde der Canard im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg mehrmals verboten. Danach versuchten Politiker und willfährige Medien, den frechen Enterich schlicht zu ignorieren. Er deckte aber bald zu viele Missstände auf; Furore machte in den Sechzigerjahren auch die legendäre Kolumne (der Hof), die das Neueste über die monarchischen Sitten im Élysée-Palast von Charles de Gaulle berichtete.
Seinen größten Coup landete der Canard, als er 1979 berichtete, wie Präsident Valéry Giscard d’Estaing vom megalomanen zen- tralafrikanischen „Kaiser“Bokassa Safari-Einladungen sowie mehrere Diamanten entgegengenommen hatte. Die Affäre trug 1981 zweifellos zu Giscards Wahlniederlage gegen den Sozialisten François Mitterrand bei. Seine Wahlkämpfer schimpften den Canard vergeblich ein „linkes Unterseeboot“. Auch Sarkozy beklagte sich später bitter, als die CanardKolumne Das Journal der Carla B. (B wie Bruni) aus dem Innenleben des Palastes plauderte. Doch das geschah auf raffinierte, unanfechtbare Weise, kamen die unangenehmen Indiskretionen doch als fiktives Tagebuch daher.
Eigentlich ist der chaîné gar nicht links. Gewiss, er ist noch weniger rechts. Aber er ist zuerst unabhängig, auch politisch unabhängig: Er schaut allen Regierenden, Mächtigen und Herrschern jedweder Couleur auf die Finger. Die „Ente“macht da keinen Unterschied. Den „poulets“, die Geheimdienstpolizisten, widmet sich die „Ente“am liebsten.
Im Aufgang zur Redaktion der Rue Saint-Honoré erinnert eine ironische Marmortafel daran, dass ein paar Agenten hier einmal Wanzen angebracht hatten, um ein paar der lästigen CanardInformanten zu eruieren. Auch deshalb stimmt die Behauptung nicht, dass die „Ente“mit Mitterrand sympathisiert habe: Dessen größter Skandal, das von den Poulets 1985 versenkte GreenpeaceSchiff Rainbow Warrior, war schließlich vom Canard mit aufgedeckt worden.
Die „Ente“macht sich aber nicht nur ein Vergnügen daraus, die Machenschaften der Geheimdienste zu entlarven. Das tut sie mit allen Arten von Militärköpfen und Schwarzröcken, Oligarchen und Zensoren, politischen Heuchlern und Halunken. Diese werfen dem Blatt gerne vor, es verletze die Privatsphäre der Betroffenen. Dabei verfolgt der Canard eine klare Linie, die der frühere Chefredakteur Claude Angeli einmal so beschrieb: „Wenn uns mitgeteilt wird, dass ein Bischof homosexuell sei, bringen wir das nicht. Hingegen hat die Öffentlichkeit das Anrecht auf die Information, wenn er eine Anti-Schwulen-Petition unterzeichnet.“
Der heutige Canard- Chef Michel Gaillard entgegnet den Kritikern seinerseits, der Schutz der Personenrechte werde meist als Vorwand benutzt, um missliebige Informationen zu unterdrücken. Dieses Argument höre er sogar aus anderen Redaktionen. „Dabei ist das Hauptproblem der Medien heute nicht mehr die Staatszensur, sondern das Corps-Denken der Eliten, zu denen auch die im Élysée akkreditierten Journalisten gehören“, sagt Gaillard.
Frei und frech
Warum berichteten Le Figaro oder jahrelang nie über die Luxusreisen der Pariser Prominenz nach Tunesien? Etwa, weil ihre Redakteure selbst den Einladungen des tunesischen ExDiktators Ben Ali folgten? CanardRedakteure nehmen aus Prinzip weder Geschenke noch Orden wie die Ehrenlegion an. Dafür brachten sie die Tunesien-Affäre ins Rollen. 2011 zwangen sie damit sogar Außenministerin Michèle Alliot-Marie zum Rücktritt.
Der Canard gehört seinen Redakteuren (auch wenn sie ihre Anteile nicht verkaufen und nicht an der Börse spekulieren dürfen). Die Ausnahme wirkt umso auffälliger, als die anderen wichtigen Pariser Zeitungen wie oder Le Monde heute Großkonzernen gehören – oder Verlegern, die mit der Politik verbandelt sind und Rücksichten nehmen. Der Canard kann sich seine Freiheit und Frechheit leisten, weil er hochrentabel ist. Das ist die beste Garantie für Unabhängigkeit. Und das ist das vielleicht Erstaunlichste an der Enten-Saga: Das Blatt mit dem biederen Look eines Studentenorgans ist rentabler als alle Pariser Medien, die sich teure Liftings verpassen. Der Canard verzichtet auf jede Werbung und Online-Ausgabe; er hat seit mehr als zwanzig Jahren keinen Relaunch durchgezogen und den Verkaufspreis von 1,20 Euro nie erhöht.
Im vergangenen Jahr ist die Canard- Auflage leicht gesunken. Das passiert in Zwischenwahlzeiten öfters; nach der verkaufsstarken Sarkozy-Ära sorgt der Langweiler Hollande zudem für wenig Schlagzeilen. Auch hat der Canard heute Online-Konkurrenten wie das Enthüllungsportal Mediapart, auch wenn dessen Enthüllungen eher ideologisch motiviert sind. Dennoch erreicht die Canard- Auflage immer noch 400.000 Stück – mehr als die größten Pariser Tageszeitungen. Während diese von den Schulden erdrückt werden, fährt der modeste Enterich jedes Jahr satte Gewinne ein und sitzt auf Rücklagen von 120 Millionen Euro, von denen aus er fröhlich weiterquakt.