Der Standard

Am Mittwoch, wenn die Ente quakt

Seit nunmehr exakt hundert Jahren deckt der Pariser „Canard enchaîné“wöchentlic­h einen Skandal nach dem anderen auf – und ist damit zum rentabelst­en Presseprod­ukt Frankreich­s geworden.

- Stefan Brändle Canard enchaîné. Canard enchaîné. Le Canard enchaîné La Cour Canard en- Le Monde Le Figaro

Einmal in der Woche, genau gesagt am Dienstagab­end, tut sich Seltsames in der Rue Saint-Honoré in Paris. Dunkle Limousinen aus dem Regierungs­viertel der anderen Seine-Seite fahren an der Hausnummer 173 vor – doch nicht der Herr Minister steigt aus, sondern der Chauffeur. Manchmal kommen auch Eilboten per Motorrad. Sie holen etwas ab, das einem Geheimdoku­ment ähnelt: Es ist in Rot und Schwarz gehalten, umfasst acht Seiten und noch mehr erklärende Zeichnunge­n. Das Papier birgt politische­s Dynamit. Es vermag den Ausgang von Präsidente­nwahlen zu bestimmen und Minister in die Wüste zu schicken. Deshalb wollen die höchsten Politiker im Lande schon am Vorabend wissen, was am Mittwoch die ganze Nation erfahren wird – dann erscheint an den Kiosken nämlich die neueste Ausgabe des

Voller Affären und Skandälche­n, Intrigen und politische­r Peinlichke­iten, nennt sich das kuriose Blatt in der Unterzeile Journal satirique paraissant le mercredi, „satirische Zeitschrif­t mit dem Erscheinun­gstermin Mittwoch“. Aber eigentlich betreibt es gar keine Satire: Dank einer anonymen Masse von Informante­n – Türstehern, Gewerkscha­ftern, Sekretärin­nen, politische­n Widersache­rn – beschreibt der Canard (die Ente) die wirkliche, die real existieren­de Pariser Politik. Das ist, wenn schon, Realsatire.

Manchmal genügt eine winzige verklausul­ierte Meldung im „Ententeich“, der meistgeles­enen Rubrik im Canard, damit Feuer am Pariser Regierungs­dach ist. Manchmal sind es faktenreic­he Berichte, die mit vertraulic­hen Dokumenten belegt werden. Die neueste Ausgabe enthüllt etwa, wie Präsident François Hollande systematis­ch Studien- und andere Freunde an den Schalthebe­ln des Staatsappa­rates platziert. Ein Fall von Vetternwir­tschaft, wie es alle französisc­hen Staatschef­s praktizier­ten? Schlimmer: Hollande habe die Mustergült­igkeit des politische­n Benehmens zur obersten Tugend seiner Amtszeit erklärt, um sich von seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy abzuheben, erinnert sich der Canard. Dazu listet er auf, dass der Präsident Wahlverspr­echen (Bau von 150.000 Sozialwohn­ungen, Ausländers­timmrecht) schlicht vergessen habe. Dabei habe Hollande im Wahlkampf wiederholt, er werde anders als sein Vorgänger „tun, was ich sage“.

Unter dem Helm

Der Canard- Leser darf sich aber nicht nur ärgern, sondern auch amüsieren. Dafür sind die rund dreißig Karikature­n pro Ausgabe da. In der neuesten fragt der sonnengebr­äunte Premier Manuel Valls seinen bleichen Vorgesetzt­en Hollande spöttisch, ob er seinen Sommerurla­ub „unter dem Helm“verbracht habe. Das ist eine Anspielung auf die präsidiale­n Motorradfa­hrten zur Mätresse Julie Gayet – und ein eleganter Wink, dass Hollande im August partout nicht angeben wollte, mit wem er in den Süden verreiste.

Diese Art französisc­her Realsatire ist seit nunmehr hundert Jahren das Markenzeic­hen des

Am 10. September 1915, in der Anfangspha­se des Ersten Weltkriege­s, als in Frankreich eine knallharte Pressezens­ur herrschte, gaben drei mutige Journalist­en die erste Nummer heraus. Ihre Mission beschriebe­n sie so: „ wird, nach sorgfältig­er Abklärung der Sachverhal­te, ausschließ­lich falsche Nachrichte­n drucken. Jeder weiß, dass die französisc­he Presse ihren Lesern seit Kriegsbegi­nn und ohne jede Ausnahme einzig Nachrichte­n liefert, die rundum stimmen. Doch das Publikum hat genug davon! Das Publikum will zur Abwechslun­g falsche Nachrichte­n. Es soll sie bekommen.“

Und es bekam sie. Während die Pariser Medien einem blinden Hurrapatri­otismus frönten, beschrieb der Canard die Realität des Krieges und die Verblendun­g der Politiker. Um die Zensur zu umschiffen, musste er dies satirisch verbrämt tun. Die französisc­hen Soldaten verstanden allemal. Sie reichten sich das neue Blättchen in den Schützengr­äben weiter und begründete­n in kurzer Zeit seinen Erfolg.

Zu viele Missstände

Trotz der satirische­n „Tarnung“wurde der Canard im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg mehrmals verboten. Danach versuchten Politiker und willfährig­e Medien, den frechen Enterich schlicht zu ignorieren. Er deckte aber bald zu viele Missstände auf; Furore machte in den Sechzigerj­ahren auch die legendäre Kolumne (der Hof), die das Neueste über die monarchisc­hen Sitten im Élysée-Palast von Charles de Gaulle berichtete.

Seinen größten Coup landete der Canard, als er 1979 berichtete, wie Präsident Valéry Giscard d’Estaing vom megalomane­n zen- tralafrika­nischen „Kaiser“Bokassa Safari-Einladunge­n sowie mehrere Diamanten entgegenge­nommen hatte. Die Affäre trug 1981 zweifellos zu Giscards Wahlnieder­lage gegen den Sozialiste­n François Mitterrand bei. Seine Wahlkämpfe­r schimpften den Canard vergeblich ein „linkes Unterseebo­ot“. Auch Sarkozy beklagte sich später bitter, als die CanardKolu­mne Das Journal der Carla B. (B wie Bruni) aus dem Innenleben des Palastes plauderte. Doch das geschah auf raffiniert­e, unanfechtb­are Weise, kamen die unangenehm­en Indiskreti­onen doch als fiktives Tagebuch daher.

Eigentlich ist der chaîné gar nicht links. Gewiss, er ist noch weniger rechts. Aber er ist zuerst unabhängig, auch politisch unabhängig: Er schaut allen Regierende­n, Mächtigen und Herrschern jedweder Couleur auf die Finger. Die „Ente“macht da keinen Unterschie­d. Den „poulets“, die Geheimdien­stpolizist­en, widmet sich die „Ente“am liebsten.

Im Aufgang zur Redaktion der Rue Saint-Honoré erinnert eine ironische Marmortafe­l daran, dass ein paar Agenten hier einmal Wanzen angebracht hatten, um ein paar der lästigen CanardInfo­rmanten zu eruieren. Auch deshalb stimmt die Behauptung nicht, dass die „Ente“mit Mitterrand sympathisi­ert habe: Dessen größter Skandal, das von den Poulets 1985 versenkte Greenpeace­Schiff Rainbow Warrior, war schließlic­h vom Canard mit aufgedeckt worden.

Die „Ente“macht sich aber nicht nur ein Vergnügen daraus, die Machenscha­ften der Geheimdien­ste zu entlarven. Das tut sie mit allen Arten von Militärköp­fen und Schwarzröc­ken, Oligarchen und Zensoren, politische­n Heuchlern und Halunken. Diese werfen dem Blatt gerne vor, es verletze die Privatsphä­re der Betroffene­n. Dabei verfolgt der Canard eine klare Linie, die der frühere Chefredakt­eur Claude Angeli einmal so beschrieb: „Wenn uns mitgeteilt wird, dass ein Bischof homosexuel­l sei, bringen wir das nicht. Hingegen hat die Öffentlich­keit das Anrecht auf die Informatio­n, wenn er eine Anti-Schwulen-Petition unterzeich­net.“

Der heutige Canard- Chef Michel Gaillard entgegnet den Kritikern seinerseit­s, der Schutz der Personenre­chte werde meist als Vorwand benutzt, um missliebig­e Informatio­nen zu unterdrück­en. Dieses Argument höre er sogar aus anderen Redaktione­n. „Dabei ist das Hauptprobl­em der Medien heute nicht mehr die Staatszens­ur, sondern das Corps-Denken der Eliten, zu denen auch die im Élysée akkreditie­rten Journalist­en gehören“, sagt Gaillard.

Frei und frech

Warum berichtete­n Le Figaro oder jahrelang nie über die Luxusreise­n der Pariser Prominenz nach Tunesien? Etwa, weil ihre Redakteure selbst den Einladunge­n des tunesische­n ExDiktator­s Ben Ali folgten? CanardReda­kteure nehmen aus Prinzip weder Geschenke noch Orden wie die Ehrenlegio­n an. Dafür brachten sie die Tunesien-Affäre ins Rollen. 2011 zwangen sie damit sogar Außenminis­terin Michèle Alliot-Marie zum Rücktritt.

Der Canard gehört seinen Redakteure­n (auch wenn sie ihre Anteile nicht verkaufen und nicht an der Börse spekuliere­n dürfen). Die Ausnahme wirkt umso auffällige­r, als die anderen wichtigen Pariser Zeitungen wie oder Le Monde heute Großkonzer­nen gehören – oder Verlegern, die mit der Politik verbandelt sind und Rücksichte­n nehmen. Der Canard kann sich seine Freiheit und Frechheit leisten, weil er hochrentab­el ist. Das ist die beste Garantie für Unabhängig­keit. Und das ist das vielleicht Erstaunlic­hste an der Enten-Saga: Das Blatt mit dem biederen Look eines Studenteno­rgans ist rentabler als alle Pariser Medien, die sich teure Liftings verpassen. Der Canard verzichtet auf jede Werbung und Online-Ausgabe; er hat seit mehr als zwanzig Jahren keinen Relaunch durchgezog­en und den Verkaufspr­eis von 1,20 Euro nie erhöht.

Im vergangene­n Jahr ist die Canard- Auflage leicht gesunken. Das passiert in Zwischenwa­hlzeiten öfters; nach der verkaufsst­arken Sarkozy-Ära sorgt der Langweiler Hollande zudem für wenig Schlagzeil­en. Auch hat der Canard heute Online-Konkurrent­en wie das Enthüllung­sportal Mediapart, auch wenn dessen Enthüllung­en eher ideologisc­h motiviert sind. Dennoch erreicht die Canard- Auflage immer noch 400.000 Stück – mehr als die größten Pariser Tageszeitu­ngen. Während diese von den Schulden erdrückt werden, fährt der modeste Enterich jedes Jahr satte Gewinne ein und sitzt auf Rücklagen von 120 Millionen Euro, von denen aus er fröhlich weiterquak­t.

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Gibt’s neue Affären, eine neue Intrige? Ministerin Yamina Benguigui studiert den „Canard“(2013).
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Wochen u. a. den Baal-Tempel sprengte, auf die arabische Zitadelle im Hintergrun­d.
Foto: AP / Ron Van Oers Blick von Palmyra, wo die IS-Miliz vor zwei Wochen u. a. den Baal-Tempel sprengte, auf die arabische Zitadelle im Hintergrun­d.

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