„Es wäre zynisch, wäre Alterung unser Untergang“
Zukünftig werden erst 70-Jährige alt sein. Weltbankökonom Johannes Köttl über den Anpassungsbedarf beim Pensionssystem und am Arbeitsmarkt.
INTERVIEW:
Standard: „Golden Aging“– der Titel Ihrer neuen Studie zum Thema Altern – ist ein sehr schöner Begriff für etwas, wovor sich Menschen, Gesellschaften und Volkswirtschaften schrecklich fürchten. Worauf müssen wir uns in den nächsten 50 Jahren einstellen? Köttl: Wenn Volkswirte übers Altern nachdenken, beschwören sie sehr schnell sehr negative Szenarien. Aber dieser Prozess geht seit Jahrhunderten vor sich. Und es geht uns immer besser dabei. Ein 40-Jähriger vor 100 bis 200 Jahren ist vergleichbar mit einem 60-Jährigen heute. Wir werden in 30 Jahren viel mehr 60-Jährige haben als heute. Das erschreckt uns, aber in 30 Jahren wird nicht mehr 60 alt sein, sondern 65 oder 70.
Standard: Sie stimmen uns auf längeres Arbeiten ein? Köttl: Anfang der 1970er-Jahre ist in der OECD der durchschnittliche Mann mit 69 Jahren in Pension gegangen, 2012 mit 64. Die Lebenserwartung ist frappant gestiegen, aber die Leute gehen im Durchschnitt vier bis fünf Jahre früher in Pension. In Österreich ist die Schere noch weiter auseinandergegangen. Die Menschen sind im Vergleich zu den 1960er-Jahren 13, 14 Jahre länger in Pension.
Standard: Aber wenn die Alten länger arbeiten, nehmen sie doch den Jungen die Jobs weg. Köttl: Nein, das ist Blödsinn. Es ist eine verbreitete, verkehrte Annahme, dass die Menge an Arbeit oder Jobs in der Ökonomie fix ist. Tatsächlich arbeiten in jenen Ländern, in denen am meisten Alte arbeiten, auch am meisten Junge. Je mehr Menschen ihr Humankapital ein- setzen und am Arbeitsmarkt sind, umso besser geht es der Wirtschaft, umso mehr Einkommen gibt es, umso mehr wird gekauft. Der Kuchen wird für alle größer.
Standard: Aber man geht davon aus, dass Menschen in höherem Alter nicht mehr so leistungsfähig sind wie junge Menschen. Köttl: Das muss überhaupt nicht so sein. Alte Menschen haben andere Qualitäten als jüngere. Schlaue Unternehmen sehen das und stellen sich durch geänderte Produktionsbedingungen darauf ein. BMW in Dingolfing hat vor ein paar Jahren ein Team mit alten Arbeitnehmern an einer Produktionslinie zusammengestellt. Man hat an diesem Pensionistenfließband über 50 verschiedene Interventionen gemacht – größere Bildschirme, ein weicherer Boden, Übungen mit einem Physiotherapeuten. Nach sechs Monaten war die Produktivität genauso hoch wie jene der normalen Linie.
Standard: Das Beispiel könnte in die Irre führen, denn die Autoindustrie ist hoch automatisiert. Köttl: Aber sie ist anstrengend. Gerade die physische Stärke lässt bei den alten Menschen am stärksten nach. Aber es geht auch um kognitive Fähigkeiten. Junge Menschen sind bei entsprechenden Tests sehr gut, aber ältere Menschen lösen Probleme anders, bei ihnen fließt Erfahrung mit ein.
Standard: Was bedeutet das? Köttl: Ein Gewerkschafter hat mir das so erklärt: Junge laufen schneller. Aber alte Menschen kennen die Abkürzungen und sind genauso schnell am Ziel.
Standard: Was würde es volkswirtschaftlich bedeuten, wenn Menschen länger arbeiten? Köttl: Wir haben in einer Studie die Importe und Exporte von Ländern angesehen – im Hinblick darauf, wie viel Input von Fähigkeiten, die im Alter besser und schlechter werden, inkludiert sind. Demnach beginnen die Länder, die eine ältere Erwerbsbevölkerung haben, über einen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren, mehr Güter und Services zu exportieren, die im Alter verbesserte Fähigkeiten verwenden.
Standard: Das kommt ja einer Wissensgesellschaft entgegen, oder? Köttl: So ist es. Was importiert wird, ist andererseits mehr, wo die Jungen besser sind.
Standard: Aber das würde ja bedeuten, dass wir auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind, allein dadurch, dass wir altern. Köttl: So einfach ist es nicht: Die schlauen Unternehmen erkennen diese Vorteile, die sich in einer wechselnden Erwerbsbevölkerung auf einmal auftun, investieren da auch. Die Firmen wachsen dann. Um auf BMW zurückzukommen: Das sind hochspezialisierte Mitarbeiter, die man unbedingt halten will.
Standard: Im Prinzip hieße das, man brauchte nur einen Paradigmenwechsel, damit Firmen diese Mitarbeiter nicht als Lasten sehen? Köttl: Genau so ist es.
Standard: Dagegen spricht allerdings eine Politik, die in Teilen seit Jahren um jedes Jahr höheres Pensionsantrittsalter feilscht. Köttl: Sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Firmen ist sehr stark verankert: Mit Pensionsantrittsalter kann man nicht mehr arbeiten. Das muss sich ändern. Daran hängt die fiskalische Hausforderung, die Herausforderung bei den Pensionssystemen und bei Gesundheitskosten: Sollte es die eine Lösung geben, ist es die, dass wir die gewonnenen Lebensjahre zumindest zum Teil in zusätzliche Arbeitsjahre ummünzen müssen. Es ist eine der größten Errungenschaften, dass so viele Menschen so alt werden. Es wäre zynisch, wäre dies auch unser Untergang.
Der Hebel
ist das An-
Standard: trittsalter? Köttl: Es würde am meisten bringen. Wir haben uns in Polen und Russland angeschaut, was alternde Bevölkerung heißt. Kommt das Altern, weil wir länger leben oder weil wir weniger Kinder haben. Tatsächlich wegen Letzterem. Deswegen gerät unser Pensionssystem ins Wanken. Das Pensionssystem ist nicht in der Krise, weil wir alle älter werden, sondern weil es falsch designt ist. Allerdings: Weil wir jetzt alle älter werden und dabei nicht länger arbeiten, wird dieses falsche Design akut.
Standard: Dem längeren Arbeiten steht mit dem Senioritätsprinzip, den fehlenden Arbeitszeitmodellen und den damit fehlenden Arbeitsplätzen einiges entgegen. Köttl: Ja, man muss an einigen Barrieren arbeiten. Das Pensionssystem ist sicher das wichtigste, aber auch die Regulierung am Arbeitsmarkt. Statt eines abrupten Abrisses wäre ein gleitender Übergang sinnvoll. Stichwort Senioritätsprinzip: Bei älteren Arbeitnehmern ist die Produktivität vielleicht ein bisschen höher, vielleicht ein bisschen niedriger. Auf jeden Fall sind sie teurer. Aus Arbeitgeberperspektive will man sie ermutigen, möglichst bald ins Pensionssystem auszuscheiden, weil man jüngere, billigere Arbeitskräfte einstellen will. Volkswirtschaftlich ist das ein irrsinniger Verlust, weil die Leute mit den meisten Erfahrungen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Dagegen muss die Politik etwas machen.
JOHANNES KÖTTL (39) hat an der Universität Wien, am Institut für Höhere Studien und an der Johns Hopkins University Volkswirtschaft und internationale Politik studiert. Seit 2004 arbeitet er bei der Weltbank in Washington und Wien. Im Juni erschien sein Buch „Golden Aging“.
Wir müssen die
gewonnenen Lebensjahre zum Teil in zusätzliche Arbeitsjahre ummünzen.