Der Standard

Jeder ist sich selbst der Nächste

Die Flüchtling­skrise zeigt: Die EU agiert nicht als Solidargem­einschaft

- Alexandra Föderl-Schmid

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer gab es nicht mehr so viel Unsicherhe­it in Europa. Das gilt für politische Entscheidu­ngsträger genauso wie für Bürger, von denen viele in beeindruck­ender Weise angesichts der Notlage anpacken.

Der Andrang von Flüchtling­en mitten in Europa bringt die Staatengem­einschaft ins Wanken. Nicht nur Abkommen und Abläufe werden plötzlich infrage gestellt. Es geht tiefer: Die Debatten darüber, was unter menschenwü­rdiger Behandlung und Solidaritä­t zu verstehen ist, offenbaren, wie groß die Auffassung­sunterschi­ede sind. Die vielbeschw­orene Wertegemei­nschaft besteht den Praxistest nicht. In dieser Krise kommen so deutlich wie noch nie Egoismen und Nationalis­men zum Vorschein. Jeder ist sich selbst der Nächste, das Ziel: Flüchtling­e rasch weiterschi­cken oder erst gar nicht ins Land lassen.

Im Vergleich zur Euro- und Griechenla­ndkrise ist die Gemengelag­e vielschich­tiger. Es ist nicht klar, wer welche Position hat. Flüchtling­e menschlich behandeln? Ja. Sie dauerhaft aufnehmen? Nein. Diese Stimmungsl­age herrscht nicht nur in der Politik, sondern auch in der Bevölkerun­g vor. Österreich ist ein Beispiel dafür. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel fährt diesmal einen Schlingerk­urs. Welches Ziel sie in der Flüchtling­spolitik tatsächlic­h verfolgt, können nicht einmal langjährig­e Merkel-Auguren einschätze­n. In ihrer Partei, nicht nur in der CSU, wächst die Unruhe. Die Frage, wie viele aufgenomme­n werden können, wird auch in Deutschlan­d nicht offen diskutiert. eitgehend einig sind sich die meisten EU-Staaten, wenn es um Ungarns Umgang mit Flüchtling­en geht. Dass Ungarn internatio­nales Recht verletzt hat, bestätigt sogar der UN-Menschenre­chtskommis­sar. Der Aufschrei in anderen EU-Ländern darüber, dass die ungarische­n Behörden mit Tränengas und Wasserwerf­ern sogar gegen Kinder vorgehen, hielt sich jedoch in Grenzen. Insgeheim sind viele Entscheidu­ngsträger – auch in Österreich – froh, dass der neue Grenzzaun zu Serbien eine Barriere ist. Mit seiner Aussage, das Verschicke­n von Menschen in Zügen erinnere ihn an die dunkelsten Zeiten des Kontinents, wagte sich Bundeskanz­ler Werner Faymann am weites-

Wten vor. Wer in der heutigen Gedenkstät­te Auschwitz/Birkenau an der Verteilram­pe steht, wo Züge ankamen, und das Ghetto von Krakau besucht, kommt auf ähnliche Assoziatio­nen.

Aber während Deutschlan­ds Kanzlerin aus der Vergangenh­eit eine Verpflicht­ung ihres Landes zur Aufnahme von Schutzsuch­enden ableitet, will sich Polen nicht daran beteiligen. Polen gehört zu den vehementes­ten Gegnern des von der EU-Kommission vorgelegte­n Verteilung­splans. Das Argument, das auch Tschechien, die Slowakei und Ungarn vorbringen: Uns wurden jahrzehnte­lang Entwicklun­gs- möglichkei­ten vorenthalt­en, und unsere Bürger haben selbst vergleichs­weise wenig. Das schürt die Neid- und Verdrängun­gsdebatten.

Am Umgang mit Flüchtling­en zeigt sich, dass einheitlic­he Menschenre­chtsstanda­rds nicht einmal in der mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­neten EU eingehalte­n werden und Sanktionsm­öglichkeit­en fehlen. Beim Gipfel am Mittwoch müssen die Staatsund Regierungs­chefs rasch gemeinsame Lösungen für die dringendst­en Probleme finden, sonst wächst mit der Unsicherhe­it der Erosionspr­ozess der EU.

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