Mensch braucht Mensch
Nach sieben Monaten auf der Flucht landet der junge Afghane Sayed zuerst in Traiskirchen und später in einer Caritas-WG in Wien. Er hatte Glück, hat aber für dieses Glück hart gearbeitet. Porträt eines „Vorzeigeflüchtlings“.
Sayed lächelt mit seinen perfekten Zähnen wie für ein Vorstellungsgespräch, als wir uns vor einem Jahr zum ersten Mal gegenübersitzen. In Magdas Hotel in Wien. Das Caritas-Projekt hat noch vor seiner offiziellen Eröffnung im Februar 2015 einige Österreicher und Asylwerber zum gemeinsamen Essen geladen. Zu diesem Zeitpunkt ist Sayed gerade 17 Jahre alt, hatte aber über 6000 Kilometer Fluchtweg hinter sich, für die er sieben Monate unterwegs war. Später, als wir uns besser kennen, erzählt er, dass er noch nie in seinem Leben beim Zahnarzt war.
Wer Sayeds Geschichte hört, versteht vielleicht, warum er keine andere Chance hat, als sein Leben als einziges Vorstellungsgespräch zu begreifen. Sein freundliches Lächeln hat ihm nicht nur geholfen, sondern auch einiges erspart und ihn dorthin gebracht, wo er heute ist. Nach Österreich, mit einem festem Wohnsitz in Wien – ein ehemaliger Flüchtling, der im Herbst seine Ausbildung zum Gastgewerbefachmann beginnen wird.
Aber von vorn. Am Ende der Veranstaltung in Magdas Hotel gebe ich ihm meine Visitenkarte. Weil er jede Situation im Leben als Chance begreift, ruft er an. Wir treffen uns zunächst einmal, irgendwann wieder, dann regelmäßig, trinken Kaffee oder gehen essen. Sayed erzählt viel über sich, zuerst in bemühtem Deutsch, das sich im Laufe des vergangenen Jahres in ein tadelloses verwandelt hat. „Ich gebe mein Bestes“ist ein Satz, den er gerne sagt.
Ich erfahre, dass er in Kabul geboren wurde, seine Familie eine Stunde entfernt in Parwan lebt, dass er drei Geschwister hat, einen Zwillingsbruder, einen kleinen Bruder, eine ältere Schwester. Dass er seine Mama vermisst. Sein Vater, erzählt er bemüht gelassen, wurde von den Taliban ermordet. Warum, frage ich. Weil er für die Amerikaner Taxi gefahren ist. Genau deswegen musste auch Sayed seine Heimat verlassen: Er hat schon mit 14 für die Amerikaner als Übersetzer gearbeitet, auch er war in Gefahr. Ohne sein Wissen hat die Mutter nach dem Tod des Vaters Sayeds Flucht geplant. Bezahlt hat sie 8000 Euro – das ganze Geld, das sie hatte. Davon erfahren hat Sayed erst kurz vor seiner Abreise.
Will man gedanklich mit Sayed dorthin zurück, wo der Abschied von seiner Familie liegt und seine Reise im September 2012 beginnt, wird der Junge, der sonst gerne redet, still. Auch damals konnte er, 15 Jahre alt, kein Wort sagen, noch immer sieht er seine Mutter, der Tränen übers Gesicht laufen: „Leb wohl, mein Sohn, und pass auf dich auf.“Seinen Rucksack haben ihm amerikanische Soldaten zusammen mit einem Paar fester Schuhe und 250 Dollar geschenkt.
Darin stecken ein Nokia-Handy, ein paar Kleidungsstücke, ein Schal, von seiner Mama gestrickt, und noch einmal umgerechnet 200 Euro Bargeld. Keine Papiere, keine Fotos, keine Erinnerungsstücke. Aber bald jede Menge Kekse, das Grundnahrungsmittel, das Schlepper „ihren“Flüchtlingen mit auf die langen Fußmärsche geben. Einen Tag und eine Nacht ist er mit zwanzig anderen über die bergige Grenze zwischen Afghanistan und dem Iran unterwegs. Irgendwann nach der Grenze kommt ein Bus, in dem sie zusammengekauert unter Decken versteckt bis nach Teheran gefahren werden. In einem riesi- gen Kellerlager für Flüchtlinge bleibt Sayed insgesamt zwei Monate. Eine Zeitspanne, in der er, laut Schlepperversprechen, sicher in Europa landen sollte.
Auf dieser ersten Etappe lernt Sayed die Regeln der Flucht, die da heißen: Du musst warten. Nur der Schlepper bestimmt, wann du dein nächstes „Game“hast, so heißt es im Schlepperjargon, wenn die Reise weitergeht. Ein Spiel, bei dem viele auf der Strecke bleiben. Sein Schlepper heißt Mirwais. Und wenn auf den vielen Kilometern in Richtung Europa jemand fragt: „Wer ist ein Mann von Mirwais?“, dann zeigt Sayed auf.
An der Grenze zwischen dem Iran und der Türkei ist er nach zwölf Stunden Fußmarsch so erschöpft, dass er es durch den Schnee nicht mehr weiter schafft. Die Schlepper haben Pferde, aber nur für jene, die sich das leisten können. Sayed bezahlt 40 Dollar und nimmt noch eine Frau mit auf den Gaul. Sie kommen in ein kleines Dorf namens Van, dort bleibt er wieder, wohnt bei einer Frau, die Ausweise fälscht. Sie hat, erinnert sich Sayed, zwei Töchter und eine alte Mutter. Nach 25 Tagen und Nächten kauft sie ihm ein Ticket und schickt ihn in einem modernen Reisebus und mit gefälschten Papieren weiter nach Istanbul.
Auch in der Türkei wird er fast zwei Monate verbringen. Wie das System der Schlepper genau funktioniert, weiß auch Sayed nicht. Eigentlich saß er in Antalya schon auf einem Boot mit rund 150 anderen Flüchtlingen. Zum Glück war der Motor kaputt, und er konnte vor der Polizei, die die Aktion im Morgengrauen entdeckt hatte, fliehen. Nachdem afghanische Freunde, die er aus Istanbul kannte, die aber in einem anderen „Game“unterwegs waren, mit einem Boot ertrunken waren, wollte er keinesfalls mehr über das Mittelmeer nach Europa. Verzweifelt ruft er seine Mutter an, will nicht weiter, weint. Sayed wird einem anderen Schlepper übergeben. Einer, der die Balkanroute nach Europa organisiert. Jene Route, auf der heute tausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, unterwegs sind.
Zu zwölft rudern sie in zwei kleinen Schlauchbooten von der
Türkei nach Mytlini auf der griechischen Insel Lesbos. In der Gruppe ist er unterwegs mit einer Ägypterin. Die beiden könnten Mutter und Sohn sein, die gemeinsam in Griechenland Urlaub machen. So soll es auch aussehen auf der Fähre nach Athen, für die der Schlepper Tickets besorgt hat. Sie kommen durch, und Sayed landet kurz vor Silvester 2012/2013 in Athen. In der Türkei, sagt Sayed, waren die Menschen freundlich, in Griechenland dann nicht.
Er wartet wieder Wochen – im Schlepperquartier, raus kann er nicht, ähnlich wie im Iran, zu groß ist ihre Angst vor der griechischen Polizei. Weil der Fährenweg von Griechenland nach Italien, getarnt als Tourist, einfacher ist als die lange Balkanroute, geht er in Patras noch einmal mit gefälschten Dokumenten an Bord: Er ist jetzt Bulgare. Aber es klappt nicht. Gleich beim Check-in wird er geschnappt, ins Gefängnis abtransportiert – und dort auch geschlagen. Er ist sich sicher, dass hier seine Reise zu Ende ist. Was er nicht weiß: Minderjährige Flüchtlinge dürfen die Behörden nicht festhalten. Sayed ist nach drei Tagen wieder draußen und bekommt ein Papier, das besagt, dass er innerhalb weniger Tage das Land verlassen muss.
Sein neuer Schlepper bringt ihn in das Dorf Goumunissa an der griechisch-mazedonischen Grenze. Vielleicht beginnt da schon Sayeds neues Leben. Im Schlepperquartier lernt er einen jungen Afghanen kennen, mit dem er es gemeinsam bis nach Österreich schafft. Nicht nur das. Mit Ali gemeinsam landet er in Traiskirchen, kommt zwei Monate später in einer Wohngemeinschaft der Wiener Caritas unter und bezieht schließlich mit ihm ein neues Zuhause in Wien, eine Wohnung, die ihnen von einer Wiener Apothekerin zur Verfügung gestellt wird.
„Sauber“und „ordentlich“
In Sayeds Facebook-Account sieht man Fotos von einem jungen Mann, der vor schönen österreichischen Kulissen posiert. Scrollt man nach unten in seine Vergangenheit, sieht man ihn zusammen mit anderen jungen Afghanen in Griechenland, wo er auf seiner Flucht seine Facebook-Seite eingerichtet hat. Niemand würde ahnen, welche Anstrengungen er und andere hinter sich haben. Wie viele andere Flüchtlinge war Sayed stets darum bemüht, „ordentlich“und „sauber“auszuschauen. Wer nichts mehr hat, will zumindest das.
Sayed ist der erste Muslim, mit dem ich mich nicht nur auf Facebook befreunde. Wer ist der aufgeweckte junge Mann, der Dari und Urdu, Persisch und Englisch spricht und Deutsch scheinbar mühelos gelernt hat, stets hilfsbereit und höflich ist und nebenbei seinen Weg konsequent verfolgt? In seiner Ringmappe, die er sehr gerne herzeigt, ist alles fein säuberlich in Klarsichthüllen geordnet: Zeugnisse von Sprachkursen, Auszeichnungen, eine Urkunde, die bezeugt, dass er an einem Redewettbewerb im Parlament teilgenommen hat, und nicht zuletzt das Zeugnis für seinen Pflichtschulabschluss, für den er elf Monate zur Schule gegangen ist. Er hat sich extra eine Schule ausgesucht, in die nur Österreicher gehen, weil er so am schnellsten Deutsch lernt. Sein Caritas-Bildungsbudget von 1800 Euro hat er bis zum letzten Cent ausgeschöpft, sagt er. Kein Wunder, dass er von den Caritas-Mitarbeitern immer als Vorzeigebeispiel präsentiert wird, dass die ihn zum Botschafter für die Flüchtlingssache machen. Einer wie er soll signalisieren: Keine Angst. Schaut her, so gut kann Integration funktionieren. Er selbst aber hatte Angst, besonders vor seinem 18. Geburtstag im Februar 2015. Da würde er volljährig und aus der Jugend-WG für Flüchtlinge ausziehen müssen.
Im Oktober davor schreibt die Zeitung Kurier zum Glück einen Artikel über Sayed, den auch Ranthild Salzer-Fölß liest. Frau Salzer ist Apothekerin, hat zwei erwachsene Töchter, die längst aus dem Haus sind, und ist seit 2012 verwitwet. Weil sie in ihrem großen Haus nicht mehr allein leben will, trifft sie eine für ihr Umfeld ungewöhnliche Entscheidung. Eigentlich, erzählt die elegante Frau im Kostüm, die mit über siebzig noch berufstätig ist, wollte sie eine syrische Flüchtlingsfamilie mit Kleinkind aufnehmen. Die gab es aber nicht. „Zum Glück“, sagt sie mit Blick auf Sayed, der seit Jänner ihr Untermieter ist.
Es läuft gut. Regeln gibt es keine, gegenseitiger Respekt vorausgesetzt: „Ich bin aber beim Sie geblieben“, sagt Salzer, „er sagt Frau Salzer zu mir, und ich sage Herr Sayed.“Die Erklärung: „Meine beiden Untermieter sind nicht meine Kinder, wir sind nicht verwandt, sie sind meine Mitbewohner.“
Wir sitzen bei Kaffee und Kuchen mitten in bester Währinger Gegend. Negative Reaktionen? Sie schüttelt den Kopf. Eher das Gegenteil: „Na, jetzt werden Sie noch berühmt“, sagen die Leute. Und manche fragen höchstens: „Haben Sie keine Angst?“Hat sie nicht. Und macht stattdessen einen Witz: „Ich muss mich nicht verschleiern, wenn ich zu ihnen raufgehe.“Dann lacht sie. Frau Salzer stellt den jungen Afghanen nicht nur Wohnraum für symbolische 50 Euro Miete, die von der Caritas bezahlt wird, zur Verfügung, sie unterstützt vor allem auch Sayed, der ab 28. September eine private Gastgewerbeschule besuchen wird. Das Schulgeld und die Arbeitskleidung hat Frau Salzer bezahlt. Mit den 280 Euro, die Sayed pro Monat vom Staat bekommt, könnte er sich das alles nicht leisten.
Ranthild Salzers Entscheidung war nicht nur uneigennützig. Wenn sie nach ein paar Bissen feinem Himbeerkuchen von ihren „kleinen Hintergedanken bei der ganzen Sache“erzählt, dann erinnert das fast ein bisschen an die Politik von Angela Merkel, die vielleicht auch solche hatte, als sie die syrischen Kriegsflüchtlinge nach Deutschland einlud. Viele von denen, die jetzt kommen, sind gut ausgebildet und könnten, wie jüngst in der Zeit geschrieben stand, einem alternden Staat wie Deutschland die notwendige Frischzellenkur verpassen.
Bei Frau Salzer ist das vielleicht ähnlich: Sie freut sich, wenn jemand da ist, wenn sie abends nach Hause kommt. Obwohl es eine Bedienerin gibt, kümmern sich die Burschen um manches, das ansteht in Haus und Garten. Zudem hatte sie im vergangenen Jahr drei kleine Operationen und kann nicht schwer tragen. Nachdem bei ihr eingebrochen und Schmuck gestohlen worden ist, ist ihr Haus mit den Untermietern auch nach außen hin belebter. Vor dem Einbruch, erzählt sie, war sie gewohnt, Broschen zu tragen. Sie könnte sich das alles wieder kaufen: „Aber“, sagt sie, „ich lebe ohne Broschen sehr gut!“Lieber fährt sie mit den beiden auf Urlaub. Zum Beispiel auf den Semmering oder nach Zell am See. Auf dem Kitzsteinhorn auf 3000 Meter Höhe Cheeseburger zu essen war ein großer Spaß, und auch im feinen Traditionshotel Panhans am Semmering sind die drei – Frau Salzer sagt das mit einem Selbst-
Ausflug nach Gnas: CaritasBetreuerin mit jungen Afghanen. bewusstsein und einer Offenheit, die vielen Frauen ihrer Klasse abgehen – „nur positiv aufgefallen“. Angesichts der vielen Flüchtlinge, die derzeit nach und durch Österreich strömen, das gibt sie ehrlich zu, ist sie heilfroh, dass „ihre Burschen“schon sicher gelandet sind. Im Sommer, als in Traiskirchen das Auffanglager mehr als überfüllt war, hat auch sie gezittert, ob die beiden ihren positiven Asylbescheid, der für das Antreten ihrer Ausbildungsstellen notwendig ist, noch rechtzeitig bekommen.
Als Sayed am 12. August einen Brief in Händen hält, hat er wirklich große Angst. Was, denkt er, wenn nicht ...? Als er ihn öffnet, fällt sein Blick auf eine Zeile: „Willkommen in Österreich“, steht da geschrieben, und obwohl das eine todernste Angelegenheit für ihn war, muss er trotzdem lachen. Willkommen in Österreich: „Ich bin schon zweieinhalb Jahre hier.“Zweieinhalb Jahre, in denen er viele Menschen getroffen hat, die ihm geholfen haben: Asylbetreuer in Traiskirchen und Wien. Mitarbeiter und Rechtsberater der Caritas. Seinen Onkel Toni, einen Arzt in Ruhestand, der ihn in seiner ersten Zeit unterstützt und ihm Wien gezeigt hat. Nachhilfelehrer und Mitschüler, die mit ihm gelernt haben. Sayed hatte Glück, aber er hat an diesem Glück schwer mitgearbeitet. Und zu einer Integration braucht es dieses Glück und Menschen, die bereit sind, zu helfen.
Eine Fahrt in die Vergangenheit
Irgendwann in diesem Spätsommer, als mit den vielen Flüchtlingen auch die große Welle der Hilfsbereitschaft anrollt, spricht Caritas-Chef Michael Landau auf Ö1. Sein Rechenbeispiel: Wenn eine Million Flüchtlinge nach Europa kämen, käme bei 500 Millionen Europäern, die es gibt, ein Flüchtling auf 500 Menschen – die unterstützen könnten. Bei Sayed waren es viel weniger Menschen. Und trotzdem steht er heute anders da als im April 2013, als er nach Österreich kam.
Spätestens seit er seinen positiven Asylbescheid bekommen hat, ist für ihn eine Fahrt nach Traiskirchen wirklich ein Ausflug in die Vergangenheit. Ohne Genehmigung spazieren wir eine Runde um die Außenmauern des riesigen Areals, in dem Sayed seine ersten Wochen in seiner, wie er sagt, „zweiten Heimat“verbracht hat. Die Zelte, die den heißen Sommer über Thema des Anstoßes, nicht nur in den Medien, waren, sind von außen nicht mehr zu sehen, nur noch die Grasnarben, wo sie dicht gestanden sind. Es ist, im Vergleich zum Sommer, ein grauer, ruhiger Tag, ein paar Freiwillige, die Essen verteilen, Flüchtlinge, die an den Zaun gelehnt sitzen – und warten. „Schau“, sagt Sayed, „siehst du das offene Fenster da oben“, und zeigt auf eines der Gebäude, „hier habe ich gewohnt.“Hier hat er auch die Nachricht bekommen, dass er nach Wien überstellt wird.
Das Kebap-Restaurant in der Nähe war früher ein Internetcafé. Ein Euro pro Stunde hat das gekostet, wenn er sein Facebook gecheckt oder sich über Österreich schlaugemacht hat. Mit 40 Euro Taschengeld im Monat und kleinen Lagerjobs, für die er ein paar Euro pro Stunde bekam, konnte er sich das leisten. Mailen mit seiner Familie in Afghanistan konnte er nicht, kann es bis heute nicht. Das Internet dort ist abgedreht. Meist telefoniert er mit seiner Mama, selten mit seinem Zwillingsbruder. Der weint dann und sagt: „Du hast mich im Stich gelassen.“Sayed wird still. Als er damals in die Gasse kam, in der sein Vater tot lag, ist er in Ohnmacht gefallen und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Bei ihm war eine alte Tante, die ihn im Arm hielt. Du musst jetzt stark sein, hat sie gesagt. „Aber“, sagt Sayed, „ich hatte damals keine Ahnung, dass eine so lange Reise in eine ganz fremde Kultur auf mich wartet.“
Auf dem Rückweg redet Sayed mit einer jungen Frau aus Afghanistan und streichelt den Kopf ihrer kleinen Tochter. Sie sorgt sich, weil sie ihr in Ungarn die Fingerabdrücke abgenommen haben, sie hat Angst, dorthin abgeschoben zu werden. Sie wartet auf die weiße Karte, erklärt Sayed. Was hat sie noch gesagt? Sayed lächelt: „Sie hat mich gefragt, wie ich bloß diese Sprache gelernt habe.“
Er weiß schon lange, dass Sprachen der Schlüssel sind für sein neues Leben in Österreich. Und durch die Sprachen, die er spricht, kann er etwas zurückgeben, von der Hilfe, die er selbst erhalten hat. Er hilft beim Übersetzen. Einer Psychotherapeutin, die mit afghanischen Jugendlichen arbeitet, oder auch am Tag, als die ersten Züge am Wiener Westbahnhof voll mit Flüchtlingen ankommen. Die haben gerade jene Fluchtroute hinter sich, die auch Sayed vor zweieinhalb Jahren nach Österreich gebracht hat.
Sayed und sein Freund Ali sind im März 2013 mit Schleppern in Serbien gelandet. Im Schlepperquartier in Subotica kurz vor der ungarischen Grenze, dort, wo die ungarische Regierung seit vergangener Woche den Stacheldraht komplett dichtgemacht hat, wird Sayed nach einem Fehlversuch und mithilfe geschmierter ungarischer Grenzbeamten nachts und „wie in einem Agentenfilm“über die letzte Schengen-Außengrenze geschleust. Von Ungarn hat er nichts gesehen, er lag die Fahrt über im Kofferraum eines Autos, bis ihn der Schlepper auf österreichischem Boden rausschmiss. Das war am 14. April 2013 um vier Uhr früh. Zehn Minuten später war die Polizei vor Ort. Aber anstatt der Schläge, die er befürchtet hatte, nahm ihm eine Polizistin seinen schweren Rucksack ab und sagte: „Don’t be afraid. You are safe.“Ich bin fast sicher, Sayed hat gelächelt. Von Österreich hatte Sayed bis dahin noch nie gehört, auch er wollte nach Deutschland wie die meisten, die im Moment zum Beispiel in Nickelsdorf stranden. Am vergangenen Sonntag war er wieder dort, wo er zum ersten Mal in seinem Leben österreichischen Boden betreten hatte. Er ist in einem Hilfskonvoi mitgefahren, um an der ungarischen Grenze beim Dolmetschen zu helfen. Sayed hat in ein Megafon gesprochen, um wichtige Informationen weiterzugeben: wie es weitergeht, wo es Taxis gibt, wie viel die kosten dürfen, wann die Busse abfahren usw.
Bevor er losgefahren ist, hat er eine SMS geschrieben: „Heute fahre ich nach Nickelsdorf mit vier anderen Leuten. Unsere Ziel ist, dass wir Flüchtlinge helfen. Medikamente haben wir mit und andere Sachen, was gebraucht wird. Ich mache das, weil ich selber in diesem Situation war. Mensch braucht Mensch. Lg Sayed“
Kein Wunder, dass er von Caritas-Mitarbeitern als Vorzeigebeispiel präsentiert wird. Einer wie er soll signalisieren: Keine Angst. Schaut her, so gut kann Integration funktionieren.
Von Ungarn hat er nichts gesehen, er lag die Fahrt über im Kofferraum eines Autos, bis ihn der Schlepper auf österreichischem Boden rausschmiss. Das war am 14. April 2013.
Mia Eidlhuber, ALBUM Mag. Christoph Winder (Redaktionsleitung) E-Mail: album@derStandard.at