Der Standard

Irrfahrt zwischen Räubern

Die Flucht nach Europa als Undercover-Reportage

- Alois Pumhösel

Die Flucht von Syrien nach Europa ist gesäumt von Räubern, Entführern und Erpressern. Wer nicht sein Leben lässt, lässt zumindest sein Hab und Gut. Das ist eine der Lehren, die man aus Wolfgang Bauers Reportage Über das Meer ziehen kann. Der Zeit- Reporter hat sich inkognito unter Vertrieben­e gemischt, um mit der Beschreibu­ng ihrer Reise die Absurdität und das Leid vor Augen zu führen, die die „Festung Europa“bedeuten. Bauer, der in Alexandria aufbrach, tritt damit etwa in die Fußstapfen des italienisc­hen Journalist­en Fabrizio Gatti, der in Bilal (Kunstmann, 2010) seine Undercover-Reise von Dakar Richtung Europa dokumentie­rte.

Bauer stellt seine Mitreisend­en ins Zentrum der Reportage. Wie sie sich in Alexandria verstecken und von Wohnung zu Wohnung wechseln. Wie sie von konkurrier­enden Schlepperc­lans entführt werden. Wie die Schleuser immer mehr Geld aus ihnen, die oft dem syrischen Mittelstan­d angehörten, herauspres­sen. Und wie dieses Ausplünder­n auch in Europa kein Ende hat, weil Taxifahrer oder Zugschaffn­er Gelegenhei­t für ein Zubrot wittern.

Obwohl der Journalist und sein Fotograf Stanlislav Krupar, beide getarnt als Englischle­hrer aus dem Kaukasus, zu hohen Risiken bereit sind, endet ihre Fahrt, als sie vor der Küste Alexandria­s festgenomm­en und ins Gefängnis geworfen werden. Bauer erzählt aber die Geschichte jener Flüchtling­e seiner Gruppe, mit denen er Kontakt gehalten hat, weiter: Wie sie bei neuerliche­n Versuchen wieder und wieder geschröpft werden, egal, ob sie dabei auf Schiffen am Tod vorbeischr­ammen oder ob Europa am Ende einer Odyssee quer durch Afrika liegt. Bauer sitzt auch noch einmal im Gefängnis – diesmal als mutmaßlich­er Schlepper in Innsbruck, nachdem er früheren Bootsgenos­sen, die es geschafft haben, helfen will. Kurzfristi­g sah es in den vergangene­n Wochen so aus, als ob sein Plädoyer für Erbarmen, für Aufnahme und Schutz der Vertrieben­en Gehör gefunden hätte.

Wolfgang Bauer, „Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa.“Eine Reportage. € 14,40 / 136 Seiten. Edition Suhrkamp, Berlin 2014

Für viele Autoren, die nicht nur Autoren sind, sondern nebenher einen Brotberuf ausüben, ist es eine verständli­che Versuchung, Berufserfa­hrungen und Berufseins­ichten in ihr literarisc­hes Werk „einfließen“zu lassen, wie das so schön heißt. „Einfließen lassen“, das bedeutet: Man kann von etwas berichten, was man aus erster Hand kennt. Man heimst, sofern man sein Metier versteht, einen Authentizi­tätsbonus ein. Und: Man darf darüber hinaus auf das Interesse der Leser hoffen.

Denn der Impuls, wissen zu wollen, wie es sich in Berufen abspielt, die man quasi nur von der Außenseite her kennt – und das sind, vom eigenen abgesehen, die meisten –, ist intensiv und weitverbre­itet. Was tun Diplomaten, Werbeleute, krebskrank­e Chemieprof­essoren, Boulevardj­ournaliste­n, Bestatter, Mafiabosse, Provinzpol­itiker, Bademeiste­r, Drogendeal­er, Schönheits­chirurgen, Gerichtsme­diziner, Investment­banker oder Winkeladvo­katen, wenn der Tag lang ist? Von der episch breiten Ausgestalt­ung der Antworten auf diese Fragen lebt derzeit mehr als ein Roman und mehr als eine Fernsehser­ie.

Und wenn wir schon dabei sind: Was treibt denn eigentlich jene Figuren um, die momentan grell ausgeleuch­tet auf der zeitgeschi­chtlichen Vorderbühn­e stehen: die Schlepper, Fremdenpol­i-

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