Ein Haufen Stoff
Das Buch der Stunde: Shumona Sinhas „Erschlagt die Armen!“über Migration, Entwurzelung, Ortlosigkeit, Versagen, Verzweiflung.
Lange nachdem ich diese Büros verlassen hatte, kamen die Worte zu mir zurück, nachts, in mein leeres Zimmer. Ihr Rauschen füllte den Raum, ließ ihn überlaufen. In manchen Nächten wache ich atemlos auf, als würde ich in der steigenden Flut aus Geflüster, Gemurmel und Geschrei ertrinken.“
Die steigende Flut, das ist die Asylbewerberschar. Deren Erzählungen hat die junge Unheldin von Shumona Sinhas Roman Erschlagt die Armen! zu übersetzen. Sie ist Dolmetscherin für französische Aufnahmeprüfungsbehörden. Tagtäglich fährt sie weit hinaus aus Paris – dorthin, wo riesige, heruntergekommene Betonblöcke sind –, um die Elendsberichte und Auskünfte der ins Land Gespülten zu übermitteln.
Attacke in der U-Bahn
Doch heute ist sie selbst die Ausgefragte – die bekennen muss, sich bekennen muss. Sie sitzt in einer Zelle. In der Pariser Métro hat sie, die Dunkelhäutige, einem noch dunkelhäutigeren Migranten eine Rotweinflasche über den Schädel gezogen. Warum? Wie kam es zu dieser Tat? Und konterkariert die Attacke, die Notwehr war (oder doch nicht?) nicht die hehre universelle Solidarität unter den Ärmsten der Armen?
Erschlagt die Armen! ist das Buch der Stunde. Dabei ist es bereits im Jahr 2011 erschienen, in einem ganz kleinen Pariser Verlag, und führte dazu, dass Shumona Sinha fristlos gekündigt wurde.
Bis dahin war sie als Dolmetscherin für französische Asylbehörden angestellt. Die literarische Reaktion auf dieses hochpolitische, zugleich hochliterarische Buch: die Nominierung für einige der wichtigsten französischen Literaturpreise. Und nun die Entdeckung durch die Hamburger Edition Nautilus, einen der wenigen Verlage, die anarchistisches Erbe noch ebenso pflegen wie in der Literatur auch immer das Politische zu finden wissen.
Shumona Sinha kam mit 28 im Jahr 2001 zum Studium nach Paris – und blieb. In Kalkutta geboren, hat sie schon vor ihrer Zeit in Europa für ihre Gedichte Preise bekommen.
Heute schreibt sie auf Bengalisch wie auch auf Französisch. Ein Französisch, das angereichert ist mit Literatur, aber das ganz das ihre ist. Die Sprache ist expressiv. Gehämmert, hie und da, selten, schiefe Bilder findend. Manch- mal herausgeschrien, ungebärdig. Auch rasend verzweifelt: weil kein Halt da ist, nirgendwo, nicht geografisch, nicht gesellschaftlich, nicht emotional. Das Rasen will diesen Dämon namens Wirklichkeit, das Grauen namens Leben, nein: nicht bändigen, eher wegdrücken.
Jede Berührung ein Schrei
Dabei ist dies alles andere als ein „Empört euch!“soignierter Pensionisten aus großen Altbauwohnungen. Das signalisiert schon die Wahl des Mottos, entlehnt von Pascal Quignard, einem der schwierigeren französischen Gegenwartsautoren, der derzeit nach und nach hierzulande in neuen Übersetzungen greifbar ist.
Und natürlich der Titel, der so sehr ins Auge springt, der so aggressiv ist und der von Charles Baudelaire stammt, dem Flaneur, dem Liebhaber künstlicher Paradiese, der sich, wie Walter Benjamin anmerkte, auf die Seite der Asozialen schlug, jener Baudelaire, der im Gedicht Der Schwan bekannte: „Alles wird mir Allegorie.“
Einfache Fragen gibt es bei Sinha nicht, auch keine simplen Antworten aus den Dunstnebeln über den Stammtischen. Gut? Ist hier keiner, ohne Ausnahme. In anteilnehmenden Fragen der Sachbearbeiter, überfordert, desinteressiert oder zynisch, lauern Widerhaken.
Die Advokaten: scheinheilig, dreist, dumm. Die Antragsteller: gebriefte Schauspieler, die sich in den eigenen Lügengebäuden nicht auskennen. Die Übersetzerin: als Frau verachtet von reaktionären Männern, bei denen mit Fragen nachzuhaken ihr obliegt.
Dies ist ein Buch, das allen ohne Ausnahme wehtut. Und wann gab es das zum letzten Mal? Eine Prosa, die wirklich schmerzt. Nicht weil sie exhibitionistisch ist oder nihilistisch, weil das gut für die Marketingkampagne ist, sondern weil hier jemand die eigene Haut zu Markte trägt, die ihr abgezogen wird, so dass jede Berührung zum Schrei führt.
Wie heißt es bei Charles Baudelaire: „Die Hoffnung, die besiegte, weint, und die Angst, wild und despotisch, auf den geneigten Schädel pflanzt sie mir die schwarze Fahne“. Die Fahne der Bedrückung, absoluter Enttäuschung, tiefster Leere.
„Lange nachdem ich diese Büros verlassen hatte, kamen die Worte zu mir zurück, nachts, in mein leeres Zimmer. Ihr Rauschen füllte den Raum, ließ ihn überlaufen. In manchen Nächten wache ich atemlos auf, als würde ich in der steigenden Flut aus Geflüster, Gemurmel und Geschrei ertrinken.“