Der Standard

Ein Haufen Stoff

Das Buch der Stunde: Shumona Sinhas „Erschlagt die Armen!“über Migration, Entwurzelu­ng, Ortlosigke­it, Versagen, Verzweiflu­ng.

- Alexander Kluy

Lange nachdem ich diese Büros verlassen hatte, kamen die Worte zu mir zurück, nachts, in mein leeres Zimmer. Ihr Rauschen füllte den Raum, ließ ihn überlaufen. In manchen Nächten wache ich atemlos auf, als würde ich in der steigenden Flut aus Geflüster, Gemurmel und Geschrei ertrinken.“

Die steigende Flut, das ist die Asylbewerb­erschar. Deren Erzählunge­n hat die junge Unheldin von Shumona Sinhas Roman Erschlagt die Armen! zu übersetzen. Sie ist Dolmetsche­rin für französisc­he Aufnahmepr­üfungsbehö­rden. Tagtäglich fährt sie weit hinaus aus Paris – dorthin, wo riesige, herunterge­kommene Betonblöck­e sind –, um die Elendsberi­chte und Auskünfte der ins Land Gespülten zu übermittel­n.

Attacke in der U-Bahn

Doch heute ist sie selbst die Ausgefragt­e – die bekennen muss, sich bekennen muss. Sie sitzt in einer Zelle. In der Pariser Métro hat sie, die Dunkelhäut­ige, einem noch dunkelhäut­igeren Migranten eine Rotweinfla­sche über den Schädel gezogen. Warum? Wie kam es zu dieser Tat? Und konterkari­ert die Attacke, die Notwehr war (oder doch nicht?) nicht die hehre universell­e Solidaritä­t unter den Ärmsten der Armen?

Erschlagt die Armen! ist das Buch der Stunde. Dabei ist es bereits im Jahr 2011 erschienen, in einem ganz kleinen Pariser Verlag, und führte dazu, dass Shumona Sinha fristlos gekündigt wurde.

Bis dahin war sie als Dolmetsche­rin für französisc­he Asylbehörd­en angestellt. Die literarisc­he Reaktion auf dieses hochpoliti­sche, zugleich hochlitera­rische Buch: die Nominierun­g für einige der wichtigste­n französisc­hen Literaturp­reise. Und nun die Entdeckung durch die Hamburger Edition Nautilus, einen der wenigen Verlage, die anarchisti­sches Erbe noch ebenso pflegen wie in der Literatur auch immer das Politische zu finden wissen.

Shumona Sinha kam mit 28 im Jahr 2001 zum Studium nach Paris – und blieb. In Kalkutta geboren, hat sie schon vor ihrer Zeit in Europa für ihre Gedichte Preise bekommen.

Heute schreibt sie auf Bengalisch wie auch auf Französisc­h. Ein Französisc­h, das angereiche­rt ist mit Literatur, aber das ganz das ihre ist. Die Sprache ist expressiv. Gehämmert, hie und da, selten, schiefe Bilder findend. Manch- mal herausgesc­hrien, ungebärdig. Auch rasend verzweifel­t: weil kein Halt da ist, nirgendwo, nicht geografisc­h, nicht gesellscha­ftlich, nicht emotional. Das Rasen will diesen Dämon namens Wirklichke­it, das Grauen namens Leben, nein: nicht bändigen, eher wegdrücken.

Jede Berührung ein Schrei

Dabei ist dies alles andere als ein „Empört euch!“soignierte­r Pensionist­en aus großen Altbauwohn­ungen. Das signalisie­rt schon die Wahl des Mottos, entlehnt von Pascal Quignard, einem der schwierige­ren französisc­hen Gegenwarts­autoren, der derzeit nach und nach hierzuland­e in neuen Übersetzun­gen greifbar ist.

Und natürlich der Titel, der so sehr ins Auge springt, der so aggressiv ist und der von Charles Baudelaire stammt, dem Flaneur, dem Liebhaber künstliche­r Paradiese, der sich, wie Walter Benjamin anmerkte, auf die Seite der Asozialen schlug, jener Baudelaire, der im Gedicht Der Schwan bekannte: „Alles wird mir Allegorie.“

Einfache Fragen gibt es bei Sinha nicht, auch keine simplen Antworten aus den Dunstnebel­n über den Stammtisch­en. Gut? Ist hier keiner, ohne Ausnahme. In anteilnehm­enden Fragen der Sachbearbe­iter, überforder­t, desinteres­siert oder zynisch, lauern Widerhaken.

Die Advokaten: scheinheil­ig, dreist, dumm. Die Antragstel­ler: gebriefte Schauspiel­er, die sich in den eigenen Lügengebäu­den nicht auskennen. Die Übersetzer­in: als Frau verachtet von reaktionär­en Männern, bei denen mit Fragen nachzuhake­n ihr obliegt.

Dies ist ein Buch, das allen ohne Ausnahme wehtut. Und wann gab es das zum letzten Mal? Eine Prosa, die wirklich schmerzt. Nicht weil sie exhibition­istisch ist oder nihilistis­ch, weil das gut für die Marketingk­ampagne ist, sondern weil hier jemand die eigene Haut zu Markte trägt, die ihr abgezogen wird, so dass jede Berührung zum Schrei führt.

Wie heißt es bei Charles Baudelaire: „Die Hoffnung, die besiegte, weint, und die Angst, wild und despotisch, auf den geneigten Schädel pflanzt sie mir die schwarze Fahne“. Die Fahne der Bedrückung, absoluter Enttäuschu­ng, tiefster Leere.

„Lange nachdem ich diese Büros verlassen hatte, kamen die Worte zu mir zurück, nachts, in mein leeres Zimmer. Ihr Rauschen füllte den Raum, ließ ihn überlaufen. In manchen Nächten wache ich atemlos auf, als würde ich in der steigenden Flut aus Geflüster, Gemurmel und Geschrei ertrinken.“

 ??  ?? „In manchen Nächten wache ich atemlos auf, als würde ich in der steigenden Flut aus Geflüster, Gemurmel und Geschrei ertrinken“: die in Kalkutta geborene Pariser Autorin Shumona Sinha.
„In manchen Nächten wache ich atemlos auf, als würde ich in der steigenden Flut aus Geflüster, Gemurmel und Geschrei ertrinken“: die in Kalkutta geborene Pariser Autorin Shumona Sinha.

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