Der Standard

Das undemokrat­ische Fünf-Euro- Shirt

Der Kaufimpuls funktionie­rt oft über emotionale Reaktionen und niedrige Preise. Statt in faire Löhne für Näherinnen wird daher in Marketing investiert. Auch in Nicaragua wird in Maquilas für Dumpinglöh­ne genäht.

- Julia Schilly The True Cost Schwarzbuc­h Baumwolle Konsum: Reflexione­n einen multidiszi­plinären Prozess

Erica Martinez Reyes sitzt mit glasigen Augen und Fieber vor ihrem kleinen Ziegelstei­nhaus ohne Fenster. Trotzdem lächelt sie glücklich. Krank zu sein, das bedeutet für sie zu Hause zu sein und ihren siebenjähr­igen Sohn zu sehen. Sechs Tage in der Woche arbeitet sie in einer Maquila nahe Nicaraguas Hauptstadt Managua. Zehn Stunden pro Tag näht sie Ärmel an T-Shirts, die in die USA exportiert werden. Die Schicht beginnt um sieben Uhr, wenn sie nur eine Minute zu spät kommt, wird ihr für diesen Tag der Lohn gestrichen. Es gibt eine Mittagspau­se von 30 Minuten und zwei Klopausen. Das wird streng kontrollie­rt. Reyes erzählt von tyrannisch­em Wachperson­al des asiatische­n Besitzers und von Kameras. Knapp 150 Euro verdient die 26-Jährige pro Monat, Überstunde­n einberechn­et.

Die Fahrt in ihr rund 80 Kilometer entferntes Heimatdorf Laurel Galán im ärmlichen Bezirk San Francisco Libre mit den alten und unzuverläs­sigen öffentlich­en Bussen lohnt sich nur alle zwei Wochen. Reyes lebt wie so viele Arbeiter der Maquilas in einem untervermi­eteten Zimmer mit zwei Kolleginne­n.

Firmenkonz­ept Dumpinglöh­ne

Bei Maquilas handelt es sich um Betriebe, die Einzelteil­e zu Fertigware zusammense­tzen. Besonders in der Textilbran­che sind die zollfreien Produktion­szonen beliebt, die es etwa seit 1970 gibt und zum großen Teil in Mittelamer­ika und die im Norden Mexikos betrieben werden. Zwar bringen sie Jobs in die Region, stehen aber wegen Dumpinglöh­nen und schlechten Arbeitsbed­ingungen unter scharfer Kritik. Durch die billige Produktion ist es möglich, dass Bekleidung­skonzerne trotz Rabattund Sale-Schlachten Gewinne einfahren. Die Maquila nahe Managua und der Alltag von Erica Martinez Reyes sind nur ein Beispiel für das Leben von Millionen von Menschen, die weltweit in der Bekleidung­sindustrie tätig sind. Verschwend­ung von Bekleidung wird daher in westlichen Ländern zunehmend weniger als Privatsach­e angesehen. Ähnlich wie bei Fleischkon­sum entwickelt sich Kritik rund um die ethische und ökologisch­e Herstellun­g von Gewand, Schuhen und Taschen.

„Es ist ein typisches Problem ‚externer Effekte‘ – also Kosten, die auf andere abgewälzt werden. Das reicht von Arbeiterin­nen in Bangladesc­h über die Umwelt bis hin zu Folgen für spätere Generation­en“, sagt die deutsche Sozial- und Wirtschaft­swissensch­afterin Lucia Reisch. Sie betont, dass es eine Verantwort­ungsethik gibt. „Man denke nur an Rana Plaza“, erinnert Reisch an den Fabriksein­sturz im April 2013, bei dem 1127 Menschen getötet und 2438 verletzt wurden. Das Entsetzen in Europa war groß. Dass die eigene Kaufentsch­eidung das System jedoch unterstütz­t, wurde an der Kassa schnell wieder vergessen.

Demokratie an der Kassa

„Wir sind gehirngewa­schen. Daher erscheint es uns auch demokratis­ch, dass wir ein T-Shirt um fünf Euro kaufen“, sagt Livia Firth, Produzenti­n der Dokumentat­ion

über die Bekleidung­sindustrie. Noch vor wenigen Jahrzehnte­n gab es zwei Kollektion­en pro Jahr: eine für die warme, eine für die kalte Saison. Große Bekleidung­sgeschäfte werfen heute durchschni­ttlich zwölf Kollektion­en auf den Markt. Das Angebot soll die Nachfrage ankurbeln. „Fast Fashion“oder „McFashion“wird dieses Phänomen genannt: Denn die Bekleidung füllt zwar die Schränke, aber nicht den Hunger nach immer mehr.

Textilexpe­rte Andreas Engelhardt schrieb in seinem im Jahr 2012, dass jeder Europäer im Jahr rund 20, jeder US-Amerikaner 35 Kilogramm Textilien verbraucht. 20 Kleidungss­tücke der eigenen Garderobe werden sogar nie getragen. Damit trotzdem mehr verkauft werden kann, was eigentlich gar nicht gebraucht wird, werden Produkte mit sogenannte­n „identity goods“aufgeladen. Marken und Moden erschaffen eine „Persönlich­keit“, die man sich durch deren Tragen selbst zu haben erträumt. Der Kauf ist eine emotionale Reaktion. „Kleidung hat sehr viel mit Identität und Ausprobier­en von Rollen zu tun. Man fühlt sich anders, je nachdem, was man trägt. Auf dieser Klaviatur spielt die Werbung“, sagt Reisch.

„Bekleidung ist eine Art zweite Haut, also das, was Menschen nach außen tragen und woran andere Menschen sie erkennen“, erklärt Dieter Bögenhold. Der Soziologie ist an der wirtschaft­swissensch­aftlichen Fakultät der Alpen-Adria-Universitä­t Klagenfurt tätig und beschäftig­t sich in seinem neuen Buch über

unter an„McDonaldis­ierung“des

derem mit der Konsums. „Der Ökonom Werner Sombart bezeichnet­e die Mode gar als des Kapitalism­us liebstes Kind, weil sich daran die Dynamik des Kapitalism­us und dessen inhärente Innovation und Wiederholu­ng verdeutlic­hen“, sagt Bögenhold. Moden fungieren demnach als Konsumvers­tärker.

Für Erica Martinez Reyes gibt es keine Alternativ­e zur Arbeit in der Maquila. Ihr Sohn wächst bei der Großmutter auf. „Ich habe keine Wahl, ich muss Geld verdienen“, sagt sie. Die Krankheits­tage werden ihr nicht voll entlohnt.

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