Der musizierende finnische Landbote
Der Komponist Jean Sibelius (1865–1957) setzte fast im Alleingang Finnland auf die Landkarte der klassischen Musik. Ein alphabetischer Leitfaden durch Leben und Werk eines genialen Eigenbrötlers.
Ainola: Als der Komponist Jean Sibelius 1904 mit Frau und Kindern eine luxuriöse Bleibe am finnischen Tusbysee bezog, hatte sich die Kunde seines Genies bereits in ganz Europa verbreitet. Die Villa Ainola wurde 40 Kilometer nördlich von Helsinki zum Rückzugsort für einen schwierigen Eigenbrötler, der beinahe im Alleingang Finnland zum Land der Hochsymphonik erhob. Vom Garten seines Grundstückes aus beobachtete Sibelius (1865– 1957) mit nicht erlahmendem Interesse den Flug der Kraniche und Schwäne. la aus den den wurde zu einer Kennmelodie des eigenwilligen Tonsetzers.
Berge: Man hat es sich angewöhnt, sich die Besonderheiten von Sibelius’ Musik mit der Topografie der nordischen Landschaft zu erklären. Manche seiner Programmmusiken ( Finlandia, op. 26) dürfen als tönende Bekundungen finnischen Nationalbewusstseins gelten. Tatsächlich wuchs Sibelius schwedischsprachig auf. Als 1918 in der bis dahin russischen Provinz ein Bürgerkrieg ausbrach, entrannen Sibe- lius und die Seinen nur mit knapper Not dem „roten“Terror. Unfassbarerweise verströmt gerade die zeitgleich entstandene 5. Symphonie Es-Dur wahre Wogen der Zuversicht. Keine Kleinigkeit bei einem Komponisten, dem das Grüblerische im Blut lag.
Halstumor: Sibelius war ein Künstler von unfassbarem Fleiß. Er verabsäumte es jedoch nicht, seiner Fantasie mit viel Champagner und Unmengen Tabaks aufzuhelfen. Ein zunächst falsch behandelter Halstumor wurde ihm 1908 operativ entfernt. Von da an kokettierte Sibelius nicht nur in seinen Tagebüchern unausgesetzt mit dem Tod. Prompt wurde er 91 Jahre alt.
Internationalismus: Obwohl Sibelius oft und gerne der finnischen Nation huldigte, zeichnete ihn als Künstler vor allem ein gesunder Egoismus aus. Komponierende Kollegen wie den Dänen Carl Nielsen (1865–1931) oder den Schweden Wilhelm Stenhammar (1871–1927) ließ er einzig unter dem Gesichtspunkt gelten, ob sie ihm auf dem Markt etwas voraushätten. Sibelius war ein begnade- ter „Networker“. Aufführungen in Berlin, London oder in den USA nutzte er zur Gewinnung immer neuer Anhänger. Die sollten die Frohbotschaft seiner spröden Musik in die Welt hinaustragen. Unzählige Pultstars machten sich für Sibelius stark, von Robert Kajanus über Thomas Beecham bis hin zu Herbert von Karajan.
Karelien: Mit der Besinnung auf die Schönheiten Kareliens setzte um 1900 auch eine Neubewertung der bäuerlichen finnischen Überlieferung ein. Die radikalen Jungfinnen bezogen sich vor allem auf das Schöpfungsepos Kalevala, aus dem Sibelius viel Stoff zum Vertonen herauslöste. Das Epos besteht aus fünfzig „Runen“, rund 23.000 Versen, voller Stabreime.
Motivik: Jean Sibelius löste fast im Alleingang eines der kniffligsten Probleme der abendländischen Klassik. Spätestens mit Brahms und Bruckner schien sich die symphonische Formenbildung überlebt zu haben. Die Gattungsregeln der Symphonie waren mit den Besonderheiten des Sonatenhauptsatzes ein für alle Mal festgelegt: Exposition, Durchführung, Reprise, Coda. Sibelius schöpfte aus der neuartigen Verkettung kleinster Motive und Partikel lebensfähige Großorganismen. Als sein diesbezügliches Meisterstück hat die 7. Symphonie C-Dur zu gelten. In ihr, die nur etwas mehr als 20 Minuten dauert, erreicht Sibelius die größtmögliche Verdichtung durch ein kaum zu entwirrendes Geschehen aus Modulationen und Dissonanzen.
Nationalsozialismus: Sibelius’ Affinität zur deutschen Kultur führte auch dazu, dass er die „Waffenbrüderschaft“Finnlands mit Hitlerdeutschland guthieß. Bereits zum Siebziger schickte ihm Hitler die Goethe-Medaille. Aus ganz anderen Gründen attackierte Theodor W. Adorno den Komponisten. Sibelius’ angeblich trivialen Tonfolgen widerfahre im kompositorischen Prozess „sehr früh ein Unglück, etwa wie einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen.“
Nervosität: Sibelius, der sich großbürgerlich kleidete und über viele Jahre auf einem Berg von Schulden saß, war in seiner Jugend ein begabter Geiger. Als Dirigent pflegte er Anwandlungen von Verzagtheit mit Schnaps zu kurieren. Man empfahl ihm, vom Taktschlagen Abstand zu nehmen.
Sound: Man hat sich die Eigenart von Sibelius’ betörender Musik meist bildhaft zu erklären versucht. Man malte sich Bärenballette aus und hörte Nymphen durch Finnlands Kiefernwälder huschen. Tatsächlich liegt ein Schlüssel zum Verständnis dieser introvertierten Musik in ihren eigenwilligen Klangvorstellungen. Die Harmonik wird häufig von Kirchentonarten bestimmt.
Verstummen: Nach 1929 komponierte Sibelius kein neues Werk mehr. Die Partitur einer 8. Symphonie soll er eigenhändig verbrannt haben. Danach war er angeblich sehr erleichtert.
Weiheklang: Aus der Fülle hochwertiger Platteneinspielungen, die zum 150. Geburtstag herauskommen, soll eine kleine Schatztruhe hervorgehoben werden: Das Decca-BoxSet Sibelius: Great Performances macht die exemplarische Einspielung der sieben Symphonien durch Anthony Collins und das London Symphony Orchestra wieder zugänglich: herrliches Remastering trotz Mono-Sounds, ein fast kammermusikalisches Durchleuchten von Sibelius’ herrlichen Klangschwaden. Sibelius wurde übrigens am 8. 12. 1865 geboren.