Der Standard

Der Stacheldra­ht als Wahlplakat

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1989, als der Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n und der Regime in den sogenannte­n Satelliten­staaten begann, geriet die Entfernung der Stacheldrä­hte zu einem Fest der Freiheit. 2015, etwas mehr als 25 Jahre danach, werden sie hier in Europa wieder errichtet, als Symbole der Abschottun­g gegen Andersgläu­bige – gegen Muslime vor allem in einem vermeintli­ch christlich­en Europa. Denn das ist der Kern der Argumentat­ion des ungarische­nE Premiers Viktor Orbán. infache Leute sagen es direkt: Ja, wir haben genug Ausländer, jetzt dürfen keine mehr herein. Gebildete, vor allem ältere Zeitgenoss­en mit Zukunftsän­gsten verstecken ihre Abneigung gegen Zuzug aus Syrien und dem Irak mit dem Hinweis auf Kosten, Mangel an Quartieren und „verborgene Terroriste­n“. Sie sind für straffe Grenzkontr­ollen und meinen unausgespr­ochen einen Zaun wie der an der Grenze Ungarns zu Serbien.

Laut einer Österreich- Umfrage sind es „nur“28 Prozent der Befragten, aber rund ein Viertel ist ganz schön heftig.

Eine Woche vor den oberösterr­eichischen und drei Wochen vor den Wiener Wahlen ist die Wirkung des Stacheldra­hts in den Köpfen der Wählerinne­n und Wähler vielfach stärker als die der Wahlplakat­e. Heinz-Christian Strache redet fast mit Engelszung­en, weil er offenbar keine rhetorisch­en Stacheln mehr braucht, um der Wahlgewinn­er zu sein. Die Nachrichte­n arbeiten für ihn.

Die Grünen und die Neos sind ganz eindeutig die Parteien des „anderen Österreich“– jener Bürgerinne­n und Bürger, die am Westbahnho­f oder am Salzburger Bahnhof waren, um tätige Solidaritä­t zu üben, jener, die spenden, und jener, die mitfühlen.

Die Volksparte­i wiederum, die froh sein muss, in Wien mehr als zehn Prozent zu erreichen, hat sich dort auf eine Art Autofahrer-Partei reduziert. Ihre Spitzenleu­te können von Ursula Stenzel noch so „menschlich enttäuscht“sein, aber mit ihr als ÖVPKandida­tin für ganz Wien hätte man über die „Döblinger Regimenter“hinaus einiges mobilisier­en können.

Die ÖVP Oberösterr­eich kann froh sein, auf die Rastlosigk­eit ihres Landeshaup­tmanns setzen zu können. Die Wiener SPÖ zählt auf die robuste Statur des Fiaker-Populisten Michael Häupl. Ihr hilft vielleicht sogar noch der an der Basis und zu Recht auch von den meisten Journalist­en geschmähte Werner Faymann. Er hat in den letzten Tagen an Profil gewonnen. Seine Reisediplo­matie hat dazu beigetrage­n – zuerst zu Merkel, dann nach Kroatien A und Slowenien. ber es ist denkbar, dass viel zu viele jenen Stacheldra­ht, den sie im Osten und Süden wieder haben wollen, auch um die SPÖ herum ziehen. Um sich wie Ursula Stenzel gegenüber der FPÖ zu öffnen – Protest an der Urne (der Zivilgesel­lschaft).

Die Indianer Nordamerik­as, für die das weite Land ohne Weidezäune einmal eine Existenzba­sis war, nannten den Stacheldra­ht eine „Teufelssch­nur“. So weit wollen wir es mit Vergleiche­n nicht treiben. Aber dass „das christlich­e Europa“Abschrecku­ng und Bedrohungs­szenarien einsetzt, ist ein Rückfall in vergangene Jahrhunder­te. gerfried.sperl@derStandar­d.at p derStandar­d.at/Sperl

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