Gedankenspiele eines überzeugten Europäers
Man stelle sich vor, Österreich würde nicht von einer Bundesregierung regiert, sondern von zwei Gremien, der „Österreichischen Kommission“(ÖK) und dem „Österreichischen Rat“(ÖR). In die ÖK würden die Bundesländer nach Belieben je einen Politiker entsenden, manche vielleicht einen besonders fähigen, manch andere einfach einen, den man im Land gerade nicht brauchen kann. Der ÖR entspräche, cum grano salis, der Landeshauptleutekonferenz – man träfe sich vierteljährlich zu Österreich-Gipfeln. Es gäbe eine gemeinsame Währung, aber kein gemeinsames Steuersystem – und die Beiträge der Länder an den Bund machten gerade einmal ein Prozent der unterschiedlichen Landesbudgets aus. Jeder versteht, dass Föderalismus nicht so funktionieren kann, wie ihn der ehemalige Grünen-Bundessprecher Alexander Van der Bellen in seinem neuen Buch schildert.
Aber er nimmt Österreich ja nur zur Veranschaulichung – was er meint, ist die EU. Und die Erklärung ihrer Schwäche.
„Unter solchen Rahmenbedingungen ist der Anreiz, das Beste für Gesamtösterreich zu tun, schwach, der Anreiz, regionale Interessen prioritär zu verfolgen, hingegen stark“, schreibt der Professor – und spricht sich daher für eine starke EU mit gleichzeitig starken Bürgerrechten aus.
Dabei wägt er stets zwischen konkurrierenden Interessen ab, vertritt Positionen, die weniger einem Grün-Politiker als einem Bundespräsidenten zuzutrauen wären – auch wenn er sich, was die Kandidatur für dieses Amt betrifft, bedeckt hält. Da zeigt er Verständnis für Lügen aus Staatsräson, bezweifelt, „dass westliche Demokratien der Urmeter der Demokratie- und Freiheitsrechte sein sollten“, und zeigt sogar Verständnis für Überwachung: „Angesichts der Zunahme des Terrorismus bleibt nichts übrig, als verdächtige Personen zu überwachen ... Überwachen ist das eine, transparente Information über die Ergebnisse dieser Überwachung das andere.“Alexander Van der Bellen, „Die Kunst der Freiheit“. € 22,50 / 176 Seiten. Brandstätter, Wien 2015